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Im vergangenen Jahrhundert wurde in Deutschland ein weitreichender Umgang mit der Atembewegung er- schlossen. In Form westlicher Atemlehren liegt
ein vortheoretisch erkundetes Erfahrungsgebiet vor. Die Frage, was man da mache, wird auch noch heute von vielen Praktikern meist nur mit der Auskunft beschie- den, dass man das nicht erklären könne und es selbst
erfahren müsse. Ansatzweise theoretisch durchdrun- gen hat lediglich Volkmar Glaser seine Atemarbeit. In den achtziger Jahren wurden auch die meisten der anderen westlichen Atemlehren in Büchern beschrieben. Erst
seit den neunziger Jahren wird das praktisch ausdifferenzierte Atemthema auch theoretisch erschlossen.
Das Atemthema hat in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bereits eine naturwissenschaftliche Karriere durchlaufen, nachdem es zuvor in der
bürgerlichen Jugendbewegung virulent geworden war. Das Leibthema hat die nachklassische Philosophie geprägt. Diese Traditionsgüter sollten durch den Nationalsozialismus nachhaltig diskreditiert werden.
Traditionsverlust durch Traditionsbruch ist aber auch nach den Worten von Helmut Schelsky Erkenntnisverlust. Lange galt der, wer sich mit dem Leib beschäftigte, als Faschist oder Katholik. Daraus erklärt sich die
beklemmende Stille, die auch die Verdrängung eines Erbes ist, das eben- falls – wie so vieles – durch den Nationalsozialismus transformiert worden war. Man war auch deshalb – nicht nur wegen dem Befangensein
im unmittelbaren Erfahrungshorizont – lange Zeit weit davon entfernt, die phänomenale Grundsituation zu begreifen, innerhalb der die westliche Atemarbeit in einzigartiger Weise wirksam ist: Das Ich, der
Wille, das Bewusstsein steht nicht dem Leib oder dem Atem gegenüber, sondern geht im Erleben unter, wodurch der unverfälschte endogen eingeschriebene Atemrhythmus frei wird. In der Atemarbeit begründet der
leibliche Kontakt als sensorische Verschränkung von Innen und Außen ein dialo- gisches Verhältnis, das in die menschliche Begegnung hineinwächst. In der Begegnung wird die in der leib- lichen Wertung gründende
Person aufgerufen wird und die Bedürfnisse der sozial vermittelten Eigennatur können zu ihrem Recht kommen. Wir haben es besonders mit dem Atemaufbau und der Atembehandlung von Veening-Grun, dem Erfahrbaren Atem
von Ilse Middendorf sowie der Atemmassage, dem Kommunikati- ven Bewegen und Eutonieaufbau in der Psychotonik von Volkmar Glaser mit eigenständigen Schöpfung zu tun. Diese weisen sowohl über die historische Mystik
und religiösen Selbstversenkungen des Westens als auch die ebensolchen hochkulturellen Leistungen des Ostens mit ihrern Körperbindungen hinaus und öffnen den Raum für emanzipative Möglichkeiten in einer
nachindustriellen Gesellschaft.
Die weitreichendsten theoretischen Erörterungen, die so tief in der konkreten Atemarbeit gründen, um auch konzeptionell wirken und philosophische
Grundsatzfragen stellen zu können, stammen von Markus Fußer, der über das Atemthema Fragen der Anthropologie und Bewusstseinstheorie, der Alternativmedizin und der Pädagogik aufschließt. Fußer stellt außerdem
die leiblichen Innendifferenzierungen der Atembewegung, die sich in einer sinnlich-sensorischen Verschränkung von Binnenraum und Außenraum begründen, als Ver- arbeitung des Sozialen zur Debatte. Die Bücher von
Markus Fußer sind bei uns im Atemraum verlegt und können nur hier bestellt werden. Über die wichtigste andere Literatur stellen wir von Markus Fußer verfasste Rezensionen vor, welche die Atemsache kritisch
weitertreiben sollen.
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