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Ein Schwangerschaftskonflikt  
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Inhalt

Die Bedeutung des Personenbezugs (15)
Wertung durch Gefühl und der Empfindung (20)
Konflikt und Raumpositionierung (25)
Empathie und zentrierter Eigenantrieb (31)
Ichschwäche und Empfindungslosigkeit (42)
Die Sammlung als Tätigkeit der Person (52)
Alternierend: empfindender Selbstbezug oder Sammlungspräsenz im Konflikterleben (61)
Jenseits der Sphäre des bewussten Ichs (71)
Selbstbewegung im Atemgespräch (79)
Atemgestalt Nabelgestalt und Partnerschaft (88)
 

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Wertung durch Gefühl und Empfindung

Leiblichkeit ist ein dem Bewusstsein äußerst beschränkt zugängliches sensorisch-sinnliches Reich. Mit ihm sind präkognitive und präverbale Wertungen gegeben, die den biografisch gewachsenen Kern der Geistigkeit einer Person binden. Unsere Idee von dem biologischen Sinnesgrund der Person will die Wertdimension einer Subjektivität einfangen, die sich als Beziehung zum anderen entfaltet. Denn auch die Person kann ebenso wenig wie das Ich eine individuelle Substanz sein. Wir können die Person antreffen, wenn wir einen Sinn für das menschliche Ausdrucksgeschehen haben. Die Person können wir bewusst erleben, wenn wir wahrnehmen, wie eine Bewegung aussieht und wie beseelt eine Stimme erscheint. Als Leib entfalten sich die Momente der Lebendigkeit einer Person, was wir paradoxerweise realisieren, wenn wir von allem absehen, was den Menschen vom Tier unterscheiden soll..

     Unsere regulative Idee von der leiblichen Gebundenheit der Wertewelt der Person unterscheidet sich von dem üblichen Gerede der Wertegemeinschaft, das mit der totalitären Absicht vorgebracht wird, dem anderen Mores zu lehren, was letzten Endes dazu führen kann, die rechtlich geschützte “Freiheit der Person” einzuschränken und die “Gleichheit vor dem Gesetz” zu unterlaufen. Werte sind etwas individuelles, der Person zugehörig und nur von ihr selbst thematisierbar. Insere regulative Idee über das Verhältnis von Wert und Leib soll uns die Möglichkeiten geben, Zusammenhänge zu ermitteln, die im Sinnhaften des sinnlichen Atemgeschehens sowie im Begegnungscharakter in der westlichen Atemarbeit liegen. Der Personenbezug der middendorfschen Atem­ arbeit existiert in der Sammlungsfähigkeit. Diese kann als eine Qualität des Anwesendseins zu einem „Anwesen“ (Martin Heidegger) der Person an ihrem Atemgrund werden. Dieses Gewahrwerden in der Atemerfahrung aber ist das Gegenteil jeglicher übersinnlicher Geistesschau, die mit dem Anspruch auftritt, das Ganze zu erfassen, und doch nur wegen ihrer Leibfreiheit eine immer diesem gegenüber nur voreilige Synthese durch Festlegungen sein kann.

     In der Atemerfahrung soll mittels der Sammlungsaktivität der Zirkel zwischen Ich und Empfindung auf- gebrochen werden, weil mit der erlebenden Qualität des Anwesendseins der Person an der Atembewegung eine Differenz in die Leiblichkeit selbst hineingetragen werden kann. In diesem Moment verändert sich aller- dings das Ich in seinem Bezug zur Empfindung, indem es mitsamt seinem Beob­ach­terstatus zugunsten des Erlebens untergeht. Danach veranlasst die an den Leib gebundene Gefühlswelt das Ich, die Welt anders zu bewerten. Damit überschreiten wir durch die Atemerfahrung die entscheidende Trennungslinie zwischen der Erfahrung des „Ich bin“ als der im Leib wurzelnden konstitutiven Selbstwahrnehmung und der Erfahrung des „Ich denke“. Letztere hat den physikalischen Körper deshalb als Antipoden, weil alle Rationalität auf der Selbstdistanzierung von der eigenen Leiblichkeit gründet. Während das Ich die eigene Leiblichkeit spürt, denkt es nicht. Und wollte es in solchem Selbstbezug handeln wollen, fehlt die sensorische Verschränkung mit dem Außen, weshalb ihm der Kontakt zu einer Sache oder einer Person misslingt.

     Die entscheidende Trennungslinie hat René Descartes für das neuzeitliche Denken mit dem sich seiner selbst gewissen und sich selbst reflektierenden Subjekt gezogen. Das mit Descartes geborene transzen- dentale Ich sollte vom Körper völlig verschieden sein, wenngleich dieser ganz ohne materielle Zusammenkunft des Denkens mit dem Körper doch nicht auskommen wollte: Sie sollten in der Zirbeldrüse zusammenwirken. Die klassische Philosophie kann als das Bemühen verstanden werden, weitere Ausgleichsbeziehungen zwi- schen Leiblichkeit und Ich zu formulieren.

     Indem die Naturwissenschaften der Philosophie die Rechte auf den Geist und die Erklärung des Bewusst- seins streitig machten, markierten sie den Weg, auf dem die psychologischen Wissenschaften einen natur- wissenschaftlichen Weg gehen und in sich selbst den Dualismus von Körper und Seele reproduzieren konn- ten. Die damit aufgeworfenen Probleme mussten sich durch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie endlos verkomplizieren, nachdem diese unabdingbar, einen dem Individuum selbst geheimen Seelengrund angenom- men, das Bewusstsein von der Seele abhängig gedacht  hatte.

     Wegen seines mitgegebenen Wertungs­charak­ters kann man im Sinne von Carl Gustav Jung das Fühlen als rationale Funktion des Seelenlebens begreifen. Sie ist an das Ich rückgebunden. Das Empfinden ist im Unterschied dazu arational, weil es ein Erleben ist, das auf einem Erfüllungscharakter des Befindens beruht, in dem sich Resonanzbeziehungen konsolidieren. Das Ich tut hier nichts zur Sache. Während das Empfinden den Charakter der Selbstbezüg­lichkeit hat, ist das Fühlen ein empathischer Vorgang, der uns beim anderen sein lässt. Das Wort (E-)Mo­tion sagt uns bekanntlich, dass das Gefühl als ein ebenfalls leiblicher Vorgang bewegend ist und zum mächtigen Motor des Tuns werden kann.

     So wie das Empfinden ins Befinden übergeht und damit zu einer Relation wird, in die auch andere einge- schlossen sind, ist auch das Gefühl nie allein nur in uns. Es definiert sich selbst in der innerlichsten Bewegt- heit, nämlich im Extremfall in der Trauer, als eine Beziehung. Die Trauer setzt ein, wenn beispielsweise ein Leben, an dem wir be­teiligt waren, zu Ende gegangen ist. Auf dem Verlust des anderen gründet ein Befin- den, bei dem wir  im Alleinsein auch zugleich über uns selbst hinausgehen. 

     Wird das Fühlen übermächtig, fällt die Person aus sich her­aus. Dadurch vernichtet sich ihre Empathie. Das Mitfühlen mit dem anderen kann nämlich in ein Sich-Bemächtigen umschlagen, wenn die Person nicht mehr in sich ruht. Die Gegenbewegung zum getriebenen Überwältigt-­sein durch das Gefühl ist die distan- zierende Rückbindung des Ichs an das Selbstempfinden. Dieses Zurückgehen in die eigene Räumlichkeit kann den Affekt bremsen, weil es ein Zu-sich-kommen ist, das von beeinträchtigenden Informationen, Sug- gestionen und Einwirkungen trennt. Die Empfindung kann jedoch wiederum so übermächtig sein, dass selbst im zer­rissensten Kon­flikterleben kaum noch Gefühle nach außen treten, wodurch deren handlungsorientie- rende Funktion ausfällt. Die Motion wird gehemmt. Dazu neigt der Introvertierte, bei dem die Gefühlswelt erstarrt, wenn ein traumatisches Erleben berührt wird.

     Das Gefühl, sowohl dessen Erstarrung als auch dessen Steigerung in den Affekt, ist nicht nur personen- gebunden. Denn der leibliche Wer­tungscharakter der Person wird nicht nur über die Empfindung informiert, sondern außerdem sozialkulturell geformt. Die Empfindung betrifft zunächst eine animistische Relation. Von einem eigentlichen Seelenleben können wir jedoch erst sprechen, wenn wir dessen überindividuelle Veran- kerung in werteselektierenden Institutionen berücksichtigen. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds hat wegen ihrer Bindung an den Sexualtrieb einen kulturkritischen Anhang, der von dem Kommunisten Wilhelm Reich kapitalismuskritisch umgemünzt wurde. Die Analytische Psychologie C. G. Jungs motivierte wegen ihrer Sinndurchtränkung der Libido die Zivilisationskritik und ließ sich vom Nationalsozialismus vereinnahmen. Vor allem die Individualpsychologie in der Tradition des Sozialisten Alfred Adlers, die übrigens bis 1945 Gemein- schaftspsychologie hieß, hatte wegen ihres Bezugs zur Machtproblematik einen unmittelbaren gesellschafts- kritischen Impetus.

     Der Bezug der Atemerfahrung auf die Empfindung neutralisiert die Wertedimension der Kultur, denn mit ihr organisiert sich die Seele auf einem organis­mi­schen Niveau. Auf diesem erhalten Informationen aus und zu der Außenwelt Resonanz. Die mit den Atem­schwin­­gungen gegebenen Empfindungsproportionen stellen dabei die leibliche Grund­lage der Wahrnehmungsfähigkeit und des Ausdrucks im Verhalten dar. In der Formatio reticularis, jenem aus dem Hirnstamm hervorwachsenden Ner­vengeflecht, über dessen Subsys- teme bzw. Hirnkerne Atem- und To­nus­­regula­tion eine innige Verbindung eingehen, finden dann die Über- gänge von leiblicher Empfindung zur seelischen Wahrnehmung hin zur Emotion und Kognition statt.

     Zwischen Empfindung und Wahrnehmung liegt die sich gestalthaft organisierende Atembewegung, die wir als ein sensorisches Medium begreifen, in welchem Innen- und Außenwelt ineinander übergehen, wodurch sie unser Befinden stimmt. Die Ganzheit der Atembewegung zeigt sich uns nie direkt und offenbart sich in Atem- gestalten, die menschlichen Daseinsweisen entsprechen. Leben können wir insofern als den Aufbau und Zerfall von diesen anthropologisch qualifizierbaren Weisen des Atmens begreifen, wie sie durch die in Reso- nanzbeziehungen aktivierten Informationen zustande kommen. Indem sich Atemweisen als sensorisch- leibliches Ereignis entfalten, können sie als Spannungsphänomen zwar dem Ich eine Meldung abgeben, jedoch nicht umgekehrt durch dessen Tätigkeit direkt hergestellt werden.

     Gefühl und Empfindung stehen in folgenden Korrespondenzverhältnissen: Je differenzierter die Empfindung ist, des­to vielfältiger, reichhaltiger und tiefer können die Gefühle sein. Damit diese Lebendigkeit realisiert werden kann, müssen beide mit etwas einhergehen, an dem es dem Empfindsamen oft mangelt: einer durch Atemkraft gestützten elastischen Abwehrfähigkeit. Sie erst erlaubt, dass die leiblich gebundenen Wertig- keiten der Person auch in einer produktiven und kreativen Haltung zur Welt zum Tragen kommen. Empfin- dungsschwäche dagegen ist das Zeichen der Starre und wird in der Regel von einer Gefühllosigkeit begleitet, die sich als ein mechanisches Machen, ein Un­beteiligt-sein in einer Situation sowie einer Unfähigkeit zum Kontakt manifestiert. Die Person kann sich bei Empfindungslosigkeit von ihrem Bezug zum leiblichen Geschehen absentieren, wenn die Sinne derart von Gefühlen beherrscht werden, dass das Ich keinen Kontakt zur Eigenempfindung mehr aufzunehmen vermag.

     In der middendorfschen Atemarbeit betrifft die Sammlung mit ihren beiden Aspekten der Hingabe und Achtsamkeit den Regulationsbereich der Person. Ist die Empfindung beeinträchtigt kann sich während der Atemerfahrung die Person aus dem Eigengeschehen der leiblichen Prozesse herausnehmen. Dann kann während der Atemerfahrung nicht jene Präsenz gehalten werden, die zum Hebel wird, mittels dessen der unwillkürliche Atemfluss im Eigenrhythmus des Übenden freigesetzt wird. Erst durch die Mög­lichkeit der Person, im Übergangsfeld zwischen Be­wusst­sein und Erleben mittels der Sammlung an der eigenen Atembewegung beteiligt zu sein, treffen wir auf deren Wandlungs­fähig­keit durch den Erfahrbaren Atem. Als gesammelte Atemweise wird der Erfahrbare Atem durch die Person vermittels des Empfindungsbezugs selbst geschaffen.

     Nicht das Ich und der verfügbare Körper, vielmehr die Person und ihr Sein als Leib sind bei midden- dorfschen Atemerfah­rungen gefragt. Während die Empfindung Körperliches quantifiziert, wodurch wir dieses in präg­nant wahrnehmbaren Proportionen erleben können, qualifiziert dagegen die Sammlung die Atembe- wegung als einen seelischen Vorgang. Und wird der Kreis von Atmen – Empfinden – Sammeln durch den Eigenrhythmus des Atems geschlossen, geschieht das Eigentliche. Die Person kommt zu sich, indem das an einen Komplex von Gesinnungen gebundene  Ich überschritten wird. Die Essenz des Bewusstseins in der Tiefe der Atembewegung, durch welche die pychisch-geistige Information zu einem energetischen Ereignis wird, bringt die Alternativen zum eingelebten Ich ins Spiel. In seiner Kardinalbeziehung der Transzendenz ist der Atem an das Personsein gebunden.    

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Ichschwäche und Empfindungslosigkeit

Je mehr Gisela B. als Person in der Atmosphäre des atem­päda­gogischen Nahe­­raumes mit mir sein konnte, durfte ich mit meinen Händen versuchen, sie als in ihrer Leiblichkeit geborgene Person  über den Atem anzusprechen. Im Verlauf der Atembehandlungen legte sie alle kontrollierende Zurückhaltung ab und getraute sich, jenen  großen Atem zu zeigen, der ihr gemäß gewesen wäre und der nun ihre ganze zerris- sene Gefühlswelt enthielt. Es kam mir vor, als schrie ihr Atem die konfliktbeladene Lebenssituation hinaus. Ihre Atembewegung verlor die im Allein­-gelas­sen-sein noch sichtbar vorhandene Impulsi­vitätsbremse und rea­gierte allzu bereitwillig auf meine Hände. Gerade hierin  zeigte sich wieder das bereits vorgestellte Grund- defizit: Es fehlte Gisela B. die innere Distanz mir gegenüber, weshalb sie das Erleben meiner Hände wie einen Schwamm aufsaugte.

     Alle innere Reserviertheit, die als verdichtete Innenräumlichkeit oder gar als Zentriert­sein im Leibsein wurzelt und eine ruhige Atmosphäre schafft, weil die Raumweite gefüllt ist und sich die Person nicht grenzen- los ausweitet, war nunmehr in ihrer Atembewegung abhanden gekommen. Ihr fehlten die bekannten Kontroll­ mechanismen, die ansonsten ihre Ausatembewegung festhielten. Gisela B. dehnte sich Hilfe suchend überall hin. Die sie durchflutende Atembewegung barg dabei nichts, was ihr als Person Festigkeit und Stetigkeit verliehen hätte. Denn ihr am Rücken ablesbarer Ansatzpunkt, von dem aus sich die Einatembewegung aus- breitet, wechselte ständig. Diese setzte einmal unterhalb des Zwerchfells im Lenden­wirbel­bereich und ein anderes Mal oberhalb von diesem im Brustkorb ein. Diese sprunghafte Alternation im Atembeginn wies auf Unentschiedenheit, Suche nach Lebens­sinn und innerliches Verabschieden vom tatsächlich Gelebten hin.

     Im Verlauf meiner berührenden Haltgebung wich diese wechselnde Atemdynamik und zeigte in den Atembehandlungen ein neues Muster ihrs Verhaltens. Gisela B.s Atembewegung verfloss nunmehr ohne innere Beteiligung der Person. Denn ihre Einatembewegung spürte sie nunmehr erst, als diese sich in ihrem Phasenende ganz gegenüber ihrer sonstigen Gepflogenheit des Zerfließens aufstaute. Und die Ausatem- bewegung gar konnte sie nunmehr überhaupt nicht erleben. Mit dieser Atemlebensschicht zeigte sie, dass sie sich im Alltagsverhalten in einer fortgeschrittenen Emp­findungs­losigkeit befand, die ihr Ich durch die eigene Leiblichkeit unorientiert ließ.

     Wegen ihres herabgesetzten Sensoriums war bei meiner Atemschülerin der innere Maßstab, der Äußeres unterscheidet, beeinträchtigt. Da sie somit durch die Ausatembewegung keine Distanzen mehr ausmessen konnte, suchte sie in der Atembehandlung mittels Einatemblähungen Anschlüsse, über die sie sich mit mir als Stellvertreter der anderen verbinden konnte. Diese überdehnten Fühlungen hatten Folgen für die Empfin- dungsfunktion, deren Bedeutung uns ins Zentrum des middendorfschen Verständnisses der Atemerfahrung führen.

     Umgeschlagen in eine bei einer Schwangerschaft erstaunliche Empfindungslosigkeit war die ehedem nahezu distanzlose Iden­titäts­be­ziehung des Ichs zur Leiblichkeit, die früher bei Gisela B. feststellbar gewesen war. Diese Emp­findungsgleichgültigkeit bestand auch gegenüber ihrer Umwelt, von der sie sich wegen ihrer abgrenzenden Fähigkeit zur Selbstemp­findung vorher nie selbstaufgebend vereinnahmen, nunmehr aber überwältigen ließ. Damals wie heute war Gisela B.s Außenorientierung mächtig und ihre distanzgebende Selbstre­flexivität gering gewesen. Nachdem durch die erlittenen Spannungen im Schwanger­ schaftskonflikt die Reizschwellen der Muskelsinne so sehr herabgesetzt waren, dass sogar die Empfindung preisgegeben wurde, war sie der Außenwelt ausgeliefert.

     In der früheren Phase unserer Zusammenarbeit zeigte sich Gisela B. als ein Gefühlsmensch mit wahrhaftigem Empfindungsleib. Sie war  sowohl stark im Fühlen nach außen als auch im Empfinden nach innen und dabei alles andere als eine überempfindliche Mimose gewesen. Ohne langes Nachdenken, aber auch ohne nachhaltige Anstrengung, innere Impulse als eigene Anliegen gegenüber äußeren Widerständen durchsetzen zu wollen, ließ sie sich zu leicht durch äußere Anregungen affizieren, um aus diesen das sie Interessierende herauszuwittern. Wie sich in der nunmehr verschärften Richtungs­defizienz bei ihrer Ausatembewegung zeigen sollte, war Gisela B. durch keine inneren Motivstrukturen festgelegt, die sie hartnäckig Ziele hätten verfolgen lassen. Nun im Konfliktfall vermochte sie nicht mehr das Gelegentliche zu leben.

     Erst durch den Schwanger­schaftskonflikt hatte sich die Beziehung von Gisela B.s Ich zu ihrem Erleben der Spannungsempfindungen, die beim Atmen entstehen, verändert. Meinen Händen zeigte sich überdeutlich, dass sie aus der Selbstempfindung geraten war. Sie sprach keineswegs zufällig davon, dass sie sich auch ansonsten wie ein Automat fühle. Dies ist der Fall, wenn die Person nicht mehr die eigene Leiblichkeit gegenüber den Anliegen des Ichs verbürgt. Meine Atemschülerin befand sich in einer unaufgelösten seeli- schen Konfliktlage, aus der sie sich nicht entlassen konnte, solange das frühere Trauma ihre Bewegungs- möglichkeiten einfror. Die Emp­findungsreduktion in der Schwan­gerschaft, die eine Abspaltung des Verhal- tens von der eigenen Person darstellt, verweist insofern auf eine ernsthafte Störung, weil mit einer Schwanger- schaft eigentlich hormonelle Antriebe gegeben sind, welche die Frau wie nie zuvor in ihrem Leben sich ihres Leibes bewusst werden lassen.

     Allgemein ist die Empfindung jenes Medium, durch welches die Person das Ich an eine alternative Mög- lichkeit zu beabsichtigten Vorhaben erinnert. Oftmals reden Leibun­be­wusste sich meldende Empfindungen weg. Die Verbindung des Ichs zum Personalen ist gekappt, wenn sich ein  dumpfes Missbe­finden aufdrängt oder eine helle Über­span­nung die Wahr­neh­mung überreizt und trotz derartiger Signale zum Innehalten eine Handlung stur durchgehalten wird. Dabei ist es ohne Belang, ob das Ich nur einer aktuellen Not begegnet oder einer eingewöhnten Lebenseinstellung folgt.

     Die durch Atemarbeit erworbene Empfindungsfähigkeit hat einen kaum zu unterschätzenden lebens- praktischen Wert. Das Erleben eines Missbefindens kann zum entscheidenden Appell der Person an das Ich werden, bewusst mit einer Situation umzu­gehen, nicht ihren Zwängen zu unterliegen, sondern sie mit den eigenen Kräften zu beeinflussen. Das Ich lernt mit Hilfe seiner Randposition gegenüber der Empfindung eine Situation zu durchschauen. Durch die distanzierte Wahrnehmung von inneren Abläufen durch das Ich, kann dieses Anschluss an die Person finden. Die inneren Eigenregulationen, die in ihrem Empfindungsende vom Ich gespürt werden können, sind über die Sammlungsfähigkeit wandelbar, wodurch sich die Person ihrer selbst gewiss wird.

     Bei traumatischen Erlebnissen übrigens fallen Ich und Empfindung auseinander: Bei erstarrter Atembe- wegung wird eine völlige Losge­löst­heit­ vom eigenen Körper erlebt. Ein gelähmtes Ich sieht in seiner Hilf- losigkeit hyperwach zu, wie dem eigenen Körper etwas ge- schieht oder angetan wird, und bleibt dabei völlig empfindungslos. Diese Dissoziation zwischen Wahrnehmung und Empfindung erlaubt, Unerträgliches auszu- halten. Auch die Möglichkeit des multiplen Ichs scheint auf vorhergehenden Erfahrungen zu beruhen, in denen sich bereits einmal das kontinuierliche Erleben von Empfindungen aufgelöst hatte. Die einfachste Form der Dissoziation ist mit dem Leugnen gegeben.

     Ver­bessert sich durch die Atemarbeit der Atemfluss, so haben die Ichkräfte des Übenden die indirekte Chance zu wachsen, weil sie zunehmend einen gebietenden Widerhall und einen täuschungssicheren Rück- halt in der Befindlichkeit erfahren. Darüber hinaus wird das Gesinnungsgefüge des Ichs an die Person zurück- gebunden und es klingt mit ihr stimmiger zusammen.  Das Ich als Wille und Wahrnehmung wird stärker konturiert, weil ihm sein Bezug zur Empfindung im Verhalten zugleich Ab­standnehmen sowie Verbindung erlaubt. Indem das Ich über die Empfindung auch die Person in ihrer leiblichen  Dimension aufruft, wird es außerdem dem Ich möglich, ohne die Person zu verlieren, von sich abzusehen und sich mit allen Sinnen den Außenrelationen zuzuwenden. Wenn sich das Ich nicht narzisstisch wichtig nimmt, kann es eine bewusste Haltung zu seiner Gegenwelt einnehmen, ohne unstimmige Sinneswahrnehmungen ausblenden zu müssen oder ihnen ausgeliefert zu sein.

     Wenn jedoch das Ich wegen Überempfindlichkeit keine Distanz zum Leib finden kann, entkoppelt sich die Beziehung zwischen innen und außen. Das Innen kann sich nicht mehr mit dem Außen sensorisch ver- schränken, weil sich die Person aus der Welt zurückgezogen hat und zu dieser keinen Kontakt mehr findet. Das Ich kann dadurch entweder Gefahr laufen, die Welt als für sein eigenes Vermögen unfassbar zu erleben, oder es will seine Ohnmachterfahrung übertrumpfen. Es entsteht der Wunsch, sich die Welt zu unterwerfen. Sind einem solchen Menschen soziale Machtmittel gegeben, wird sein Ego den anderen demütigen.

     Der Informationscharakter der Empfindung ist darin begründet, dass diese einerseits aller Sinnesorganisa- tion vorhergeht und zum anderen in die Motorik unmittelbar integriert ist. Wir haben also zweierlei Formen der Empfindung: Einmal kennen wir sie im Verhalten, die als Befinden im Raum das Existentielle ausmacht. Der seelische Konflikt zeigt sich in dieser Dimension als gestörtes Verhältnis von Ausdehnung und Positionie- rung, was wir in der Atemweise von Gisela B. nachgewiesen haben. Die andere Weise der Empfindung ken- nen wir als Rückstoß einer Bewegung in den Leib, wodurch unsere Bewegung geführt wird. Hier haben wir bei Gisela B. gesehen, wie sich die Richtungs­defizienz in der Ausatembewegung in eine solche der Motorik übersetzt. Der intentionale Bezug des handelnden und wahrnehmbaren Ichs, der primär motorisch und an die Körperlichkeit gebunden ist, wird durch das Befinden im Raum gestört, wenn sich Ausdehnung und Positio- nierung, Grenze und Zentrierung in der Formung des Atems gegenseitig ausschließen.

     Überdehnte, zu enge oder zurückgezogene Leibgrenzen oder Posi- tionsaufgabe bzw. Positionsbehaup- tung im Raum sind zunächst vitale Möglichkeiten, sich selbst im Konflikt zu erhalten und das Eigenmilieu zu schützen, wenn dieser nicht auflösbar ist. Ist diese Verar­bei­tungsweise aber auf Dauer gestellt, so wird die regenerative Kraft der Atembewegung eingeschränkt und ihre biologischen Strebungen werden deformiert. Die Wahrnehmung reduziert sich und Ichanteile werden abgespalten, weil sie keinen leiblichen Widerhall mehr erfahren. Das Ich kann gegenüber dem Es schwach werden, sich mit Abwehrmechanismen gegenüber der Außenwelt behaupten oder auch sich dekomponieren. 

     Wegen der Erinnerungsfunktion aktualisiert sich im Leib das bekannte Vergangene, wodurch im Extrem- fall Bewegung, Handlung und Ausdruck überhaupt nicht mehr vollendet werden, weil nunmehr sowohl der Handelnde vom Außen gebannt ist als auch ihm sein Inneres einen Streich spielt. Er reagiert mit Dystonie, kommt ins Schwitzen, errötet, erlebt gar depressive Stimmungen. Das Körperhaben des Ichs kann nicht mehr als Leib­sein der Person realisiert werden.

     Der existentielle Re­gulationsbereich des Ichs durch die Zustände des Befindens war bei Gisela B. so beeinträchtigt, dass sie sich im Alltag abgestumpft fühlte und in der Atemerfahrung zunächst fast nichts mehr empfinden konnte. Deshalb vermochte sie auch nicht mehr den Bewe­gungssinn einer middendorfschen Übungsweise zu realisieren. Sie vermochte das Zweckhafte einer Bewegung so lange einzulösen, wie wegen achtsamer Willent­lichkeit das motorische Element gegen­über dem sensorischen vorherrschend bleiben konnte. Sobald jedoch nicht mehr nur die Bewegung durch das Ich ausgeführt werden sollte, sondern Gisela B. sich auch als Person hingebend auf diese einlassen sollte, damit der sensitive Effekt der Bewegung wirken konnte, zerfiel auch die Ichleistung in der auszurichtenden Bewegung. Gisela B. konnte vermittels der sensitiven Bewegung keinen Kontakt zu sich selbst finden.

     Die Unfähigkeit meiner Atemschülerin, zielgerichtet sensitive Bewegungen auszuführen, die eine diesen entsprechende Ausatemrichtung nach sich ziehen, lag darin begründet, dass Gisela B. sich mit ihrem ich- geführten Kör­perhaben nicht auf ihr personales Leibsein beziehen konnte. Das körperliche Signum eines seelischen Konfliktes, dem eine traumatische Erstarrung zugrunde lag, war das Ausblenden der Empfindung gegenüber dem Ich. Damit waren zugleich – worauf wir ebenfalls bereits hingewiesen hatten – die Aufmerk­ samkeitsleistungen des Leibes bei der Bewertung des Wichtigen und Unwichtigen gefährdet. Die Person ist auf ein durch ihr wertendes Leibverhalten strukturiertes Sinnenfeld angewiesen, soll sie nicht hilflos überströ- menden Reizen ausgeliefert sein. Die Empfin­dungsreduktion um den Preis des Selbstverlustes ist in der Stringenz der Erörterungen von Atemerfahrungen keine Tätigkeit des Ichs, sondern eine Notbremse der sich selbst erhaltenden Person.

     Immer wenn die Empfindung gegenüber dem Ich abgeriegelt wird, dient dies zunächst dem Selbstschutz vor dem erneuten Aufbrechen einer früheren Verletzung in einer gegenwärtigen Konfliktlage. Die momentane Handlungsfähigkeit des Ichs wird dadurch allerdings um den höchsten Preis aufrechterhalten, den es zahlen kann: Mit der Reduktion der Empfindung wird der Leibrückhalt für die Distanz- und Unterscheidungsfähigkeit des Ichs beeinträchtigt. Der Leib sagt dem Ich nicht mehr eindeutig, wie entsprechend der Integrität der Person zu handeln ist. Je weniger das Ich einen Widerhall im Leib erfährt, desto mehr werden sich neu­ rotische Tendenzen im Verhalten durchsetzen oder manifeste zur Flucht drängende Ichängste das Handeln unterminieren.

     Bei Gisela B. traten jedoch zunächst nicht die Spannungsstrukturen in den Vordergrund, die im Konflikt erhöht oder herabgesetzt werden, um dem Ich zu ermöglichen, seine momentane Handlungsfähigkeit in seiner Welt zu bewahren. Dabei wird zunächst nur die Empfindung über die periphere Gammaregulation der Muskelsinne modifiziert. Bei Gisela B. aber wurde die Empfindung völlig neutralisiert, weil die Emotionalität aufgetrieben bzw. sie als Person außer sich geraten war. Sie wechselte von der Empfindung, die dem Ich Abstandnehmen erlaubt hätte, zum Gefühl als vorherrschender seelischer Funktion, so dass sie sich unbe- wusst getrieben ausagierte. Sie war aber damit bereits partiell fähig, das traumatische Erstarrungsmuster, das eine gesteigerte Fluchtreaktion in einem Konflikt darstellt, zu verlassen.

     Bei Gisela B. gewann die Emotionalität als Affekt die Oberhand und trieb den Dualismus von Körper und Seele heraus. Emotionen brechen aus dem energetischen Atemgefüge hervor, das sie damit dynamisieren. Insofern sind sie primär ein leibliches Geschehen, bevor sie zentral über das Zwischenhirn reguliert werden. Gefühlslagen haben eine entscheidende Ver­mitt­lungs­funktion zwischen Leib und kognitiver Bewertung, um die gefährdete Stabilität von Verhaltensweisen zu sichern. Emotionen entstehen im Leib, Kog­nitionen bilden sich im Kopf.

     Ist die Atemweise in ihrer Gestalt aufgebaut, so sprechen wir nur von Gefühlen, die uns im Kontaktverha- lten Orientierung geben. Der Affekt dagegen beruht auf dem Zerbrochensein einer die Existenz qualifizieren- den Atemweise. Dies ist der Fall, wenn im Durchleben einer Situation die Binnenrealität und die nach innen genommene Außenwelt partout nicht mehr zueinander passen. Sie rufen eine Spannung hervor, weil die von unten kommenden Antriebskräfte und die horizontal sich ordnenden Atemdynamiken, „aufsteigender“ und „horizontaler Ausatem“, auseinander treten. Dieser Hiatus bildete sich bei Gisela B. in der leichten Überdeh- nung des Brustkorbes mit der Folge einer unbegrenzten Horizontbildung aus, welche die Vitalverankerung minderte, die dafür ausschlaggebend ist, wie wir uns im Raum positionieren und über uns sensorisch hinaus- leben. „Exzentrische Positionalität“  ist das zugehörende Stichwort, das von Helmuth Plessner, einem der Begründer der Anthropologischen Philosophie stammt, notiert hat..  

       Die ihr Ich schwächende Empfindungslosigkeit war der Grund dafür, dass Gisela B. von ihren Gefühlen überrannt wurde. Sie konnte deshalb keine Klarheit und Entscheidungsfreiheit finden, weil ihr die Fähigkeit abhanden gekommen war, emotionale Impulse zu bremsen, zu gestalten und aufzuschieben. Der Verlust der Empfindung, von dem wir vermuten, dass er nicht aufgrund von drohenden Reizüber­flutungen entstand, weil er an einen Totstellreflex erinnerte, lo­ckerte die personale Gebundenheit der Gefühle, trieb sie in den Affekt und signalisierte dadurch, dass das Bewusstseins von der leiblichen Subjektivität abgetrennt war. Die emotio- nale Bewertung der Gegebenheiten hatte sich von der Person mit ihren individuellen Prägungen eines sinn- lich-sinnhaften Horizontes getrennt, nachdem sich bei Gisela B. der seelische Konflikt in seiner dualistischen Ent­gegensetzung von Körper und Seele gezeigt hatte.

     Das starke Ich verhält sich normalerweise gegenüber seinen Lebensbedingungen opportun und ist darin von seiner leiblichen Or­ganisiertheit gestützt, so dass es selten in eigentliche Entscheidungskonflikte kommt. Erst wenn Alternativen des Handelns diesen Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Leib konflikthaft zu zerreißen drohen, macht es Sinn, von der Realisierung der Willensfreiheit des Ichs zu sprechen, das in seinem Entscheiden angebunden ist. An anderer Stelle habe ich die von dem US-ameri- kanischen Neurologen Antonio Damaiso zwar unabweisbar angenommenen, aber nicht näher bestimmten „körperlichen Marker“, an die das Ich in seinem Entscheiden gebunden ist, als eine spezifische Atemgestalt identifiziert. Für das klare Ja und das entschiedene Nein ist die Qualität des mittleren Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel maß­geblich (vgl. hierzu „Ruinöse Zahnwerkstoffe“). Der eigentliche, an der Substanz der Person nagende Entschei­dungskonflikt wird also jenseits rationaler Abwägungen des Ichs, nämlich im mittleren Atemraum gelöst, sollen nicht die Alternativen des Verhaltens verdrängt und damit Wahrnehmung- und Erlebnisdimensionen als Atemreduktionen abgeschattet werden.

     Hiermit ist der Gewissenskonflikt gemeint, der in seiner Natur deshalb so unbarmherzig ist, weil die Redlichkeit der Person tangiert wird und nicht bloß ein ethisches Prinzip gegen ein anderes steht. Redlichkeit als einziges Verhalten, in welchem der Mensch nach Immanuel Kant vollkommen sein kann, beruht auf der Fähigkeit nach vorne zu leben, weil die selbstsichere Positionierung im Raum gewährleistet ist. Durch diese ist die Person von vornherein gegen ein Handeln immunisiert, das ihre Integrität zerstören würde. Der Gewissenskonflikt ist deshalb so schmerzhaft, weil sich die Bindung des Nabelfeldes an das Harazentrum bzw. die Verankerung der Selbstgeborgenheit in der physikalischen Schwerkraft aufzulösen droht.

      Berücksichtigt man diese leibliche Tiefe der Entscheidung so wird unabweisbar: Nur in der leiblichen Rückvermittlung zur Person entsteht die wirkliche Freiheit des Ichs zu entscheiden, um zwischen Absicht und Vermögen, Wille und Unwill­kürlichkeit zu vermitteln und damit die Einheit von Körper und Seele im Leib herzu­stellen. Eigentlich findet das alltägliche Entscheiden, das zwischen Handlungsalternativen mit ihren Zwecken auswählt, um so mehr auch ohne die willkürbewusste Tätigkeit des Ichs statt, je selbstsicherer sich eine Person ist. Insofern kann auf das Unbewusste vertraut werden, das deshalb nicht – wie es in der freudschen Tradition meist geschieht – mit der Verdrängung gleichgesetzt werden darf. 

     Der Gewissenskonflikt ist demnach der eigentliche Kern der Entscheidung des Ichs, weil er gegenüber der leibliche Basis verselbständigt zwischen entgegengesetzten Werten auszuwählen gezwungen ist, um eine moralische Sinnkrise zu beenden. Der Mensch ist aber unfähig, sich in seiner Freiheit als Person zu ent­ scheiden, solange – wie es bei Gisela B. in der Atembehandlung aufgewiesen worden ist – das Ich in seinem Bezug zur Empfindung und die Person in ihrem Bezug zur Sammlung zerlegt sind.

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Alternierend: empfindender Selbstbezug oder Sammlungspräsenz durch Konflikterleben

Gisela B. war zunächst nur fähig, die äußere Atemanregung und Atemmobilisierung durch meine Hände, also das Tun meines Ichs, anzunehmen. Sie vermochte aber zunächst nicht, mit ihrer Atembewegung auf meine Ansprache ihrer Person zu antworten. Die Personenbezo­genheit in der Sammlung, nicht das Ich, das emp- findet, verantwortet, dass sich die Atembewegung von innen her ausbreiten und deren mildes Eindringen in das Gewebe Spannungsverhältnisse auflösen kann, die eine alte Wunde verdecken.

     Das Ich kann sich zunächst gleichgültig zur Empfindung verhalten, weil es sich von der in die Empfindung einkehrenden Welt und den Empfindungsdaten des Leibes unterscheidet. Das Ich kann also auch nichts empfinden. Die Person dagegen ist mit der Leiblichkeit ge­geben, weshalb Empfindungslosigkeit des Ichs den Verlust der Person bedeutet. Die Sammlung spannt sich zwischen Ich und Person und setzt mit der willent- lichen Bewusstseinstätigkeit des Ichs ein. Tritt nun das Ich der Empfindung mit einer hingabelosen Haltung der Kontrolle gegenüber, ist der Übergang zum Personenbezug der Sammlung gesperrt.

     Da der empfindende Selbstbezug immer auch auf leibliche Erinne­rungspotentiale des muskulären Gewe- bes trifft, musste Gisela B. wegen des aktuellen Konflikterlebens mit ihrem Ich zu achtsam werden. Der Muskeltonus wurde in einer sich selbst steigernden Aufmerksamkeit so erhöht, dass das Gegenteil dessen eintrat, was Sinn und Zweck der Sammlung sein soll. Statt den eigenen Atemrhythmus in Hingabe durch ihre Person freizugeben, bremste Gisela B. diesen durch die ge­bannt­e Konzentriertheit ihres Ichs ab.

     Vergegenwärtigen wir uns nochmals: Dieser Einbruch der Überacht­samkeit in die Sammlungsfähigkeit geschah, sobald ich begann, mit der manuellen Atemmobilisierung nachzulassen und Gisela B. dem Geschehen nachspüren zu lassen, das heißt ich begann sie mit meinen Händen darin zu unterstützen, ihre durch die vorhergehenden äußeren Atemanre­gungen lebendiger gewordene Atemweise zu erleben. Dadurch sollte die Atembewegung von innen her zu wachsen beginnen.

     Als ich just versuchte, sie bei diesem erregenden Sachverhalt nur noch in ihrer Personenhaftigkeit anzu- sprechen, begann das Ich mit seiner Kontrollaktivität. Sie wurde überachtsam, als es galt, nicht mehr nur der motorischen Aktivität meiner Hände und der einfühlsamen Manipulation des Atems zu folgen, sondern nur noch die Atembewegung zu empfinden und im Gleichgewicht von Hingabe und Achtsamkeit in ihr anwesend zu sein. Meine Atemschülerin konnte dieser mit der Empfindung zugleich geforderten Präsenz als personalen Erlebnisqualität nicht nachkommen und verlor daraufhin den Kontakt mit mir und zu sich selbst.

     Gisela B. konnte der aktiv zu erlebenden Erregung in der Atembewegung, in der sich in der aktuellen Konfliktsituation ihre gesamte Biographie herauskristallisierte, nicht mehr so ohne weiteres mit ihrer Person begegnen. Geht während der Atemerfahrung diese Vordringlichkeit von belastenden Informationen in die Behandlungssituation ein, gerät sie an einen Scheitelpunkt. Die Atembewegung und das personale Sammlungsgefüge bricht entweder ein oder die Atembewegung wird durch die gesammelte Atemweise transformiert.

     Der hohen Anforderung an die Person, wodurch sich die Besonderheit der middendorfschen Atemerfah- rung ausweist, konnte Gisela B. vorerst nicht genügen, so dass es mir mit meinen sich in ihre Atembewe- gung einschmiegenden Händen nicht gelang, den Raum für ein Atemgespräch zu öffnen. Meine Kontaktan- gebote erhielten keine Antwort von ihrer Person durch einen von innen sich meldenden Atem. Denn bevor dies geschehen konnte, verlor sie durch ihre Kontrollspannung den Sammlungsaspekt der Hingabe an die Atembe- wegung, um sich schließlich durch die völlige Aufgabe der Präsenz im Übergangsfeld zwischen Bewusstsein und Erleben aus dem Geschehen in der Atembehandlung zu verabschieden.

      Der Verlust der Sammlungsfähigkeit verhindert, dass sich die Atembewegung mit Substanz anreichert.  Erst die Sammlung qualifiziert die empfundene Atembewegung seelisch. Tritt ein solch extremes Auseinan- derklaffen der Elemente der Grundformel des Erfahrbaren Atems ein, so ist dies ein Hinweis dafür, dass die Person ihre seelischen Konflikte ausagiert und innerlich (noch) nicht bereit ist, sich ihrem Atem anzuver- trauen. In den endlosen Gesprächen, die Gisela B. mit viel zu vielen führte – sie suchte außerdem psycho- logischen Rat in einer Fami­lien­bera­tungsstelle –  wurden zwar alle möglichen Gesichtspunkte erörtert, aber es konnte trotzdem kein ihr Leben situierender Standpunkt gewonnen werden, der zur Entscheidung gedrängt hätte.

     Vom Atem her gesehen hätte der Gewinn eines ihr Verhalten stabilisierenden Standpunktes bedeutet, dass sich die Atembewegung in ihrer Rückschwingbewegung im mittleren Atemraum zentriert hätte, was - wie bereits angedeutet - als Verdichtungsempfindung der schmal werdenden Ausatembewegung im jeweiligen Raummittelpunkt erlebt werden kann. Diese Zentrenbildung bringt in gewisser Weise die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Vollatembewegung als biologische Strebung zum Abschluss, weil mit ihr die Atem- räume zueinander in ein ausgeglichenes Verhältnis gesetzt werden. Ist bei jemandem durch die Atemarbeit die Ausatemkraft derart gebündelt, so verhält er sich in seinem Leben ohne große willentliche Anstrengung zielgerichtet. Er geht unabdingbar seinen Auf­gaben nach und lässt sich seine Energie durch nichts zerstreuen.

     Fließt die Ausatembewegung zentriert in den verschiedenen Atemräumen, ist also weder oberhalb noch unterhalb des Zwerchfells zu viel oder zu wenig Atembewegung. Auch die horizontale Dimension,  das Verhältnis von vorne zu hinten so­wie der Seiten zueinander, ist ausgeglichen. Zentrierte Atemformen sind Gestalten einer Vollatembewegung: Das Brustbein geht aufgrund einer guten Grundspannung beim Einatmen etwas nach vorne und erzeugt eine tonische Arretierung der  unteren Zwischenrippen. Diese können sich aufdehnen sowie eine variantenreiche Auffächerung des gesamten Brustkorbes einleiten und spenden dem sich absenkenden Zwerchfell, das den Bauchraum weitet, einen Gegenhalt.

     Der Grundvorgang des Zentrierens führt zum Positionieren im vital-sensorischen Raum. Beides geschieht durch die Ausatembewegung, wobei das Positionieren durch ein vertikales Ausrichten der Atembewegung von unten nach oben geschieht. Wir sprechen vom Lagetonus, über den die besprochene Regulation der Wach- heitszustände stattfindet. Das Zentrieren der Atemräume zieht auch ein zentriertes Verhalten im Raum nach sich, das nicht die grundsätzliche Lage, sondern das phasische Geschehen in der Gegenwärtigkeit einer spezifischen Situation betrifft, in der wir etwas mit sensorischer Aufmerksamkeit bedenken, wenn etwas wich- tig ist. Beide bereits vorgestellten sondermeridian-retikulären Steuerungen greifen ineinander: Das aufmerk- samkeitsrelevante Zentrieren im Raum wird durch seitlich verlaufende Muskelketten formiert. Durch die seit- liche Gewichtung wird die individuelle Horizontbildung ausgerundet, die mit der aus- dehnenden Atemgestalt Hintergrund sowie der zentrierenden Atemgestalt Vordergrund gegeben ist..

     Das geweitete Becken entwickelt eine Spannkraft, die vektoriell auf einen Punkt ausgerichtet ist. Dieser liegt etwa auf der Mitte einer Ebene, die ca. 3 cm unterhalb des Nabels zur Kreuzbeinmitte hin gedacht wird. Wir sprechen vom Harazentrum oder vom Atemimpulspunkt. Wir benannten bereits wiederholt die Zen- trierungsbedeutung in der Atembewegung, die uns auf die Subtilität des Umgangs in der middendorfschen Atemarbeit hinweist: In der Atemerfahrung kann als Verdichtungsempfindung erlebt werden, wie eine zen- trierte Ausatembewegung in dieses Atemzentrum zurückläuft, an dem wiederum ein neuer Impuls zum Einatmen einsetzt.

     Das Harazentrum oder der Atemimpuls bilden sich jedoch nur dann, wenn der Atem nicht von oben, vom Schultergürtel oder vom  starr ausgestellten Brustkorb, gezogen wird. Außerdem kann sich aus diesem Zentrum eine vertikale Richtungsempfindung nach oben, also aufsteigend entwickeln. Die Grundform der Richtungsbildung hatten wir bereits benannt: Mit dem zurückschwingenden Zwerchfell und dem Schmal- werden des Rumpfes kann die Ausatembewegung einen aufsteigenden Charakter annehmen. Dieser auf- treibende Drang nach oben stabilisiert die Aufrichtung, weil mit jedem Atemzug das Reflexfeld zwischen Zwerchfell und Halte- sowie Stützmuskulatur aktiviert wird. Die aufsteigenden Ausatemrichtungen differen- zieren sich wie die absteigenden und horizontalen in ihren durch die Empfindungsfunktion erlebbaren Bewegungsqualitäten danach, wie sie innerhalb verschiedener Atemgestalten tragend werden, auf deren Freisetzung bezogen sich die middendorfschen Übungsensembles integrieren. Fülle und Dichte in den Räumen bedingen sich einander. Je größer ihre Spannkräfte in der Biografie einseitig durchgelebt wurden und in der Atemerfahrung integriert werden konnten, desto größer wird der Atem. 

     Verdeutlichen wir die angesprochene Zentrumsbildung weiter: Zentren bilden sich in allen Atemräumen. Das Harazentrum bzw. der Atemimpulspunkt fällt mit dem Schwerpunkt des Körpers zusammen. Die energetische Qualität der Beckenatmung, ja bereits des Einatemimpulses im unteren Atemraum sowie die Beckenbodenzentrierung und die Bindung des Nabelfeldes an das Kreuzbein und Steißbein geben uns deshalb Auskunft darüber, wie jemand im Raum positioniert ist. Die Zentrierung der Ichkräfte findet im mittleren Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel statt. Sie übersteigt die pure Schwerkraftbindung und bedarf einer persönlichen Haltung zur Welt, deren Aufrichtungsphysiologie – wie wir gesehen haben – ebenfalls mit der Atembewegung gegeben ist. (Die Wirbelsäule wird übrigens wegen ihrer engen Bindung an die Atemmuskulatur als „Atemachse“ bezeichnet. Die ständige Schwingung der Atembewegung ist für die Ernährung der Bandscheiben wichtig, weil diese beim ausgewachsenen Menschen nicht über den Blut-, sondern über den Lympheaustausch stattfindet.)

     So steht die Entwicklung des mittleren Atemraums in besonderer Weise im Mittelpunkt, wenn die Atemgestalt Ichkraft durch eine ausgewählte Kombination von fünf bis sieben Arbeitsweisen innerhalb einer Übungsstunde zum Thema wird. Die Versiertheit eines Atemlehrers unterscheidet sich nun darin, wie er es versteht, die zutreffenden sensorischen Bezüge auszuwählen, die er durch verschiedene sensitive Bewe- gungsübungen oder Arbeiten mit dem Laut intensivieren möchte. So kann es für den Aufbau der Atemgestalt Ichkraft letzten Endes darauf ankommen, dass im mittleren Atemraum die Atemruhe, die Raumweitung oder die Raumverdichtung entscheidend wird. Ruhebildung in der Atempause könnte dann durch die schweigende Arbeit mit dem Vokal „O“ vorbereitet werden. Für eine horizontale Raumweitung in der Rumpfmitte, welche der Ichkraftstärkung dienen soll, könnte eine sensorische Umrissarbeit mit den Füßen der sinnvollste Ausgang sein, welche den gesamten Atemraum in seiner sensorischen Grenze über uns hinausweitet. Zentrierungen im mittleren Atemraum könnten von einer Integration der Bewegungen des unteren (Beine und Becken) und oberen Atemraumes (Schultern, Kopf und Arme) abhängen. 

     Das Gegen­teil des Zentriertseins finden wir beim Ausagieren, bei dem die Ausatembewegung richtungs- los bleibt und von einer übermäßigen Brustkorbdynamik ausgebremst wird. Von einer Empfindungslosigkeit begleitet treibt das emo­tiona­le Überflutetsein zu einer Ichbehauptung. Indem beim Ausagieren die Einatem- bewegungen zerfließen, wird die sensorische und gegenüber der physikalischen Körpergrenze verschiebbare Leibgrenze wegen Resonanzlosigkeit der eigenen Anliegen instabil. Dieses sensorische Spürfeld wird immer wieder aufs neue aufdringlich ausgedehnt, um den anderen zu umfangen und bricht wegen der Ziellosigkeit der Ausatembewegung zusammen. Der Agierende verfügt weder über einen eigenen sensorischen Schutz- schild noch umfasst er den anderen so in einer gemeinsamen Sphäre, dass sich dieser angesprochen fühlt. Der Agierende kann mit dem andern zusammen keinen persönlichen Spielraum aufbauen. Nur wenn wir uns als Person transsensisch verhalten, also sensorisch „über uns hinaus sind“, verbinden wir uns mit dem ande- ren. Wir kommen nur wegen dieser trans­sen­si­schen Grundvoraussetzung mit ihm in Kontakt, der zur Be- gegnung fortschreiten kann.

     Wenn wir uns im sphärisch erlebten Raum mit dem anderen verschränken wollen, bedarf es einer Reser- viertheit, die immer fehlt, wenn sich im mittleren Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel kein Eigen- impuls entwickeln kann. Ruhe und Gelassenheit fehlen, weil der mittlere Atemraum die vitalen Bewegungen unterhalb und die dynamischen oberhalb des Zwerchfells nicht zu integrieren vermag. Wir begegnen nicht nur durch die vitale Positionierung im Raum der Gravitation. Die Atembewegung ist auch physikalisch gesehen an die Fliehkraft, die Abart der Schwerkraft, energetisch gebunden, indem sie sich über die Ein- und Ausatem- impulse in der Zwischenrippenmuskulatur dynamisiert. Das Ich ist zu einem klaren Ja und Nein befähigt, wenn sich der mittlere Atemraum beim Einatmen zu füllen und beim Ausatmen zu zentrieren vermag.

     Ist das Ich von der Leiblichkeit getrennt oder wird es durch ein aufsteigendes Missbefinden über- schwemmt, so liegt – wie bereits erwähnt – immer eine Verselbständigung des Aspektes  der verschiebbaren Grenze gegenüber der Zentrierung zugrunde. Bei einem eingeschnürten Raum und damit einhergehender Emp­findungsschwäche sind die inneren Antriebe der Person immer zu gering, als dass sich die Sinne von äußeren Anregungen voll bewegen lassen könnten. Das Ich hört nimmt in diesem Fall kaum ihr das unbekannte Innere das ausreifen möchte und in das Lernspiel mit dem Bekanntem,einbezogen sein will: Durch dieses können sich Fremdes und Eigenens egegnen, Ist die Grenze des Leibraums jedoch bei starker Empfindung eng gespannt, so ist die Person im Interesse der Selbstzentrierung des Eigenen überwach konzentriert. Sie hält sich im Raummittelpunkt fest, während die umliegenden Raumschichten hypersensibel „das Gras wachsen hören“. Ist dagegen der Raum überdehnt, kann die Person keinen stabilen Horizont mehr finden, so dass sie äußeren Anregungen ausgeliefert ist.

     Da beim Ausagieren die Selbstzentrierung aufgegeben ist, fällt die Person ständig aus sich heraus. Sie ist sensorisch nicht bei sich selbst. Ausagieren entleert. Das aufgebrachte Reden wird vom Ich mit all seinen psychischen Ab­wehrmecha­nismen geführt und dieses ist von sich selbst, der Person mit allen ihren im Atemleib habitualisierten Gewohnheiten, Einstellungen und Haltungen getrennt. Im Ausagieren lenkt die Angst das sich selbst verteidigende Ich. Der mittlere Atemraum wird von oben durch eine überblähte Brust- atmung nur mitbewegt. Ihm fehlt die Selbstbewegung, weil der Einatemzug von einer innervierten Atemhilfs- muskulatur im Schultergürtel angetrieben wird. Die Verbindung zu den aufsteigenden Antrieben aus dem unteren Atemraum, dem Becken, ist gekappt. Psychoanalytisch gesehen bedeutet dies, dass die Trieban­sprüche des Es zurückgewiesen werden.

     Die Empfindung der Atembewegung durch die Bewusstseins­aktivität des Ichs kann im Gegenzug zum Ausagieren einen Kontakt zur biografisch gewachsenen Sinnhaftigkeit herstellen. Es besteht die Chance, dass der Konflikt nicht mehr im Außen ausagiert, sondern bei sich selbst wahrgenommen wird. Diese Umlenkung der an die äußere Welt ausgelieferten Sinne nach innen ist zwar zunächst mit einer verstärkten Hingabe an die eigene Körperlichkeit verbunden, doch diese Einpassung des Ichs bleibt darin noch der eigenen Person fremd, da der psychische Sam­mlungsaspekt, die Achtsamkeit nämlich, noch nicht in den Ablauf der Spannungen integriert ist, die durchs Atmen entstehen. Erst wenn das Ich durch die Atembewegung derart eingeschlossen wird, dass in der Sammlung das Bewusstsein zugunsten des Erlebens untergeht, kann die Atembewegung in ihrer eigenrhyth­mischen Unwillkür­lichkeit von der Person zugelassen werden.

     Die Praxis des Erfahrbaren Atem lehrt uns, den Atem als ein Phänomen des Bewusstseins zu begreifen. Auch nach William James liefert er die Essenz, „aus der die Philosophen das Wesen, das ihnen als Bewusstsein gilt, konstruiert haben“. Paradoxerweise wird uns die Qualität des Atems als Bewusstseinsphänomen durch ein Verfahren gewiss, das geradezu auf dem Untergang des transzendentalen Ichs aufbaut. Indem sich die Bewusstseinsdistanz des Ichs zur Atembewegung zugunsten ihres puren Erlebens auflöst, wird jene eigenständige, nämlich gesammelte Atemweise geschaffen, die Ilse Middendorf den „Erfahrbaren Atem“ nennt. Dieser stellt neben dem unwillkürlich-unbewussten Atemfluss während des Tun und Lassens sowie der willentlichen Atemtechnik und suggestiv beein­flussten Atemweise – etwa durch das Autogene Training oder während einer Meditation – eine dritte Atemform dar.

     Nur wenn es gelingt, die Sammlungspräsenz durch die Person zu halten und das Ich in der Empfindung zu binden, kann der eigentliche Übergang zum Erfahrbaren Atem überschritten werden. Wenn sich die Atembewegung in ihrem Eigenrhythmus auszubreiten beginnt, hat das Ich ausgespielt, weil dem unwillkürlich fließenden Atem durch das erfüllte Erleben personale Substanz zugeführt wird. Die von innen kommende und durch Sammlung begleitete Atembewegung dringt lösend ins Gewebe ein. Sie hebt partielle Unterspannungen an oder vermindert Überspannungen in einzelnen Muskelpartien, um die biologischen Strebungen zu einer gestalthaften Atembewegung freizusetzen. Nur eine anthropologisch qualifizierte und ans pure Erleben gebundene Atemgestalt zwingt den zentralen Gehirninstanzen über die Formatio reticularis seine Imperative auf.

     Indem das Ich durch den unwillkürlichen Atemrhythmus eingeschlossen wird, wird das Bewusstsein an seinen leiblichen Grund zurückgebunden, wodurch sich dessen seelische Dynamik zum Un­bewussten wandelt. Dies kann zunächst durch ein schrittweises Abschleifen und Auflösen von muskeltonischen Ungleichgewichten vonstatten gehen, wodurch Blicke auf die Anzeichen eines verdrängten Konflikts geworfen werden können. Wenn eingelebte Über- und Unter­span­­nungen abgebaut werden, dringen Gefühle und Affekte in die Wahrnehmung ein, die als gewebliche Reizmuster der Erinnerung für das Bewusstsein abgeschaltet waren. Und wenn, durch lange, regelmäßige Übung auf den Weg gebracht, schließlich gar der Atem in seinem einem jeden Menschen eingeschriebenen Eigenrhythmus frei wird, löst sich eine in der Atembewegung eingefrorene seelische Konflikt­dy­na­mik auf und das Leben von der jeweiligen Daseinswei­se entsprechenden Atemgestalten wird möglich.

     Die lösende Qualität des Atemflusses ist an ein personales Verhalten gebunden und kann nie durch äußere Manipulationen erreicht werden. In der middendorfschen Atemarbeit werden Konflikte weder wie in der lowenschen Bioenergetik von außen aufgebrochen noch wie im Rolfing hart oder in der boyensenschen Bio­dynamik weich aufmassiert. Die Person des Behandelten hat durch die Samm­lungs­komponente in der Atemarbeit die innere Verfügung darüber, was sie freigeben will und kann. Da Menschen weder bloß vom Ich geführte Reflexautomaten noch nur der willentlichen Bewusst­seins­direktive unterliegende Wesen sind, ist insofern von einer menschlichen Subjektivität zu sprechen, als die Person es ist, die das Verhältnis von leiblich wertender Zustandsbefindlichkeit im Innen-Außenverhältnis eingebetteten Sinnenraum und der dinghaften dem Ich sich darbietenden Wahrnehmung vermittelt.

     In der Atemarbeit berühren wir den leibhaften Grund der Werte und Tugenden, die im Verhalten der Person mitschwingen und welche dem handelnden Ich als Gesinnung oder Einstellung zur Verfügung stehen, nicht in ihrer geistigen Dimension. Atemarbeit im middendorfschen Sinne zielt nicht auf das Innewerden seelischer Inhalte ab. Der Erfahrbare Atem lebt vielmehr vom Erfülltsein durch die Empfindung der Atembewegung. Aber diese neutralisiert im middendorfschen Arrangement der Therapie geradezu die Emotion. Zwischen Empfindung und Affekt liegt die Gefühlsstimmung, über welche ein Anschluss an die Person geknüpft werden kann.

     Die Bindung des Gefühls als Stimmung an die Empfindung kündet außerdem von einem Bereich, auf dem ein integrierter Übergang von der Atemtherapie zu einer sensitiven Weise der Körperpsycho­therapie  möglich wäre. Da die Person im Verhalten verfügbare Kultur ist, die in der gesamten Sinnesorganisation der Leiblich- keit gebunden ist und dem Leben Sinn verleiht, kann eine auf die Leibhaftigkeit bezogene Psychotherapie ein kultur- bzw. zivilisationskritisches Element einholen, was durch den middendorfschen Atemweg nicht möglich ist. Denn dieser wird als Erfahrbarer Atem zwar in der Ahnung begangen, dass er dicht durch das animis- tische Resonanzgeschehen geführt ist, der aber ausdrücklich verzichtet und es als seine Zäunung ansieht, in seinem Voranschreiten ausdrücklich nicht den mitschwingenden seelisch-geistigen Informa­tionsgehalt ins Licht des Bewusstseins heben zu wollen.

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Selbstbewegung im Atemgespräch

Erinnern wir nochmals daran: Wenn Gisela B. in ihrem Konflikterleben endlich bereit war, sich diesem als Person über ihren Atem zu stellen, war dies auch dem Sachverhalt zu verdanken, dass ich ihr einen vital-sensorischen Begegnungsraum anzubieten vermochte. Ich war in der Lage, die Atmosphäre so mit meiner Person zu stimmen, dass  sich Gisela B. trotz ihrer großen Not ausweiten konnte, um sich mit mir sensorisch zu verschränken. Entscheidend dafür, dass Gisela B. über meine Hände angesprochen werden konnte, war das gemeinsame Bewohnen der Sphäre. Die gute Atmosphärenbildung beruht auf einem einfachen Dasein, das meine Atemschülerin in diesem gegenüber dem Alltag besonderen und von meiner Person angebotenen therapeutischen Raum wiedergewinnen konnte.

     Innerhalb des vital-sensorischen Begegnungsraumes lernte Gisela B. zunächst, ihre Empfindungslosigkeit aufzugeben und ihr Ich als Organ der Eigenwahr­nehmung einzusetzen. Als jedoch dieser Gewinn mit dem Verlust der Sammlung alternierte, was sich noch in den folgenden Behandlungen wiederholte, war es an der Zeit, durch die Atemarbeit die Wachheit ihrer Person im Wechsel der verschiedenen Aufmerksamkeitsphasen zu stabilisieren.

     Wir arbeiteten seit der sechsten Behandlung zweimal wöchentlich.  Zum alleinigen Üben zuhause, außerhalb des von mir angebotenen und meiner Person gefüllten therapeutischen Raumes, war sie noch nicht imstande. Dies hätte geheißen, dass sich Gisela B. ihrer Situation mit ihrer Person hätte stellen können, um sich selbständig ihrem Atem zu überlassen, damit dessen Bewegung den Konflikt klärt und löst.

     Nicht nur war die aktuelle Konfliktdynamik zu überflutend, um den Atem selbständig aufsuchen zu wollen. Sie hatte bislang die Atemarbeit vor allem als wohltuend genossen. Ihr fehlte die durch Erfahrung gereifte innere Gewissheit, dass mit der Arbeit an der Atembewegung als dem „inneren Konditionssystem“ (Helmuth Plessner) allen Verhaltens die gesinnungshafte Einstellungswelt des Ichs tran-s­zendiert werden kann. Da sie in diese existentielle Qualität der Atembewegung noch gar nicht hineingewachsen war, hatte sie zu dieser Instanz in ihrem Innern noch gar kein Vertrauen fassen können.  

     Unsere Beziehung war so tragfähig, dass sich in der achten Behand- lungsstunde eine zwischenmenschliche Begegnung ergeben sollte, die Gisela B.s Person wandelte. Ich hatte in dieser Behandlung die Beine durch dehnende und drückende Bewegungen sowie Umlagerungen gut für die Entwicklung der Vitalkräfte vorbereitet. Vor allem die Füße lasssen sich leicht ohne personale Anforderung ansprechen, so dass es zweckmäßig ist, in einem zerreißenden Konflikterleben mit der Behandlung bei ihnen zu beginnen. Da die Füße das unterste Schwerkraftfeld bilden, lässt sich vor allem mit dem Drücken der vielen Sehnenenden und Aufdehnen der feinen Muskeln im Fuß der Lagetonus verbessern.

     Eine solche Arbeit optimiert entsprechend dem holistischen Prinzip, wonach von einem Punkte aus das Gesamte informiert werden kann, die allgemeine Tonusverteilung. Energetisch korrespondieren mit den verschiedenen Partien der Füße korrespondieren die Atemräume. So ist etwa die Wirbelsäule über die Innenkanten des Fußes anzusprechen. Zu beiden wiederum existiert eine energetisches Korrespondenz zur Scheitellinie im Kopf. Schmerzpunkte auf diesen Linien entsprechen muskulären Spannungen auf die Wirbelsegmente. Eine verstopfte Nase beispielsweise kann durch die Arbeit am großen Fußzeh, er korrespondiert energetisch mit dem Kopf, frei werden. Wie in der Fußreflexzonentherapie wird auch das Umgebungsmilieu der Organe durch die manuelle Arbeit an den Füßen sowie überhaupt die sensitive Bewegungsarbeit angesprochen.

     Nachdem sich durch die Fußarbeit, das Drücken und Aufdehnen im Atemrhythmus, die Beine und das Becken von Gisela B. mit Atembewegung gefüllt hatten – wir sprechen vom unteren Atemraum, der selbst nochmal mit den Fersen in energetischer Verbindung steht –, konnte sie sich von der Liege tragen lassen. Indem es ihr gelang, eine transsensische Be­zie­hung zu ihrer Unterlage zu halten, vermochte sie auch eine solche zu mir aufzubauen.

     Für ihr Konflikterleben bedeuteten diese einfachen Behandlungsschritte enorm viel, weil Gisela B. durch diese Beckenfüllung auch wieder zu sich kam und ihre Überreiztheit gedämpft wurde. Resultiert – was bei Gisela B. nicht der Fall war, ihr misslang vielmehr die Positionierung und auch infolgedessen die Zentrierung des leiblichen Rückhalts ihrer Ichkraft – eine solche Überreiztheit aus mangelnder Ausdehnungsweite bezüglich der Horizontbildung, so ist es sinnvoll, so lange den Rücken auszustreichen, bis das mit jener einhergehende flache Atmen aufgegeben werden kann.

     Im Tragenlassen sind die beiden Aspekte des Lagetonus,  Ausdehnung und Positionierung, integriert. Es wird von einem sich weitenden Atemschwingen begleitet. Es kann eigenständig auch im Sitzen als bewusste Kontaktaufnahme der Füße zum Boden und der Sitzknochen zum Übungshocker erarbeitet werden. Damit sich der Atemschüler wieder so in der Gravitation verankert, dass ihm eine sensorische Raumausdehnung gestattet ist, kann darüber hinaus das middendorfsche Übungsensemble ungemein differenziert eingesetzt werden, um der Problemlage entsprechende Atemgestalten, etwa die des Hintergrundes oder der Nabelkraft sowie auch des Mittenraumes aufzubauen.

     Nachdem die Beine von Gisela B. belebt waren und sich der untere Atemraum mit Atembewegung zu füllen begonnen hatte, ließ ich sie auf den Bauch liegen, um am unteren Rücken weiterzuarbeiten. Dieser war von der Rumpfmitte her gehalten, weshalb sich die Atembewegung an der Vorderseite etwas zu weit in den Raum hinauslehnte. Mit diesem Atemzustand korrespondierte außerdem ihr leichtes Hohlkreuz, aufgrund dessen die Ausatembewegung nur schwer ganz anzunehmen war. In der muskulären Spannungsausprägung ihres Hohlkreuzes war das für Gisela B.s Verhalten so zentrale Defizit der mangelnden Selbstpositionierung im Raum begründet.

     Im zurückschwingenden Schmalwerden werden Antriebskräfte aus dem Beckenraum gebündelt, die als Impulsqualitäten der Einatembewegung gebildet worden waren. Wir haben bereits den vitalen Spannungsaufbau besprochen, der mit dem Hereinziehen des sich absenkenden Zwerch­fells in den Bauchraum und der gleichzeitigen Aufdehnung der Leibwände beim Einatmen stattfindet und in der nachfolgenden Atemphase wegen des Hochgehens des Zwerchfells und des gleichzeitigen Zurückgehens der geweiteten Leibwände in eine „aufsteigende“ Ausatembewegung überführt wird.

     Sagen wir es zugespitzter: „Aufsteigender Ausatem“ vollendet durch Selbstpositionierung im Raum den Lagetonus, während dessen anderer Aspekt der sensorischen Horizontgewinnung durch die Einatembewegung eingelöst wird. Die über diese einfache Rich­tungs­bildung hinausgehende Zentrenbildung in der Ausatembewegung gewährleistet außerdem die Anbindung der phasischen Reagibilität im Verhalten an die inneren Antriebe. Letzten Endes ging es bei Gisela B. um diese phasentonische Regulation durch die Selbstantriebe. Ihr empathisches Verhalten, das sie im überaus großen Maße zu mobilisieren vermochte, musste an ihre Person zurückgebunden werden.

     Um diese im Hohlkreuz geronnene Materialisie­rung ihres Verhaltens aufzulösen, dehnte ich zunächst mit dem Einatmen den Bereich der Lenden-Nieren-Gegend auf und hielt in der nachfolgenden Phase des Ausatmens diese vom Kreuzbein her weiter auseinandergezogen. Dadurch konnte sich das Ausatmen automatisch verlängern, wodurch sich der untere Rumpf mit Atembewegung zu füllen vermochte. Danach strich ich im letzten Drittel der Einatembewegung diesen bei ihr kritischen Leibsektor seitwärts von der Wirbelsäule her aus, was die Einatembewegung zur Ausdehnung in den Raum lockte, wodurch diese eine größere Weite gewann. Die als selbständiger Atemim­puls wahrnehmbare Kreuzbeinkraft stabilisierte sich wegen dieser im unte­ren Rücken angereicherten Atembewegung und verleiht den aus dem Hara- sowie Beckenbodenzentrum aufsteigenden Ausatem­dy­na­miken einen Vitalschub.

     Mit diesen gelungenen Vorbereitungen – in den vorhergehenden Atembehandlungen hatte ich immer wieder intensiv an den Beinen und am Lenden-Nieren-Sektor gearbeitet, ohne mehr als deren Verle­bendigung zu erreichen –, waren die instrumentellen Zugänge zur Atem­bewegung, die immer von Seiten sowohl des Behandlers als auch des Behandelten eine Angelegenheit des Ichs sind, zu ihrem Ende gekommen. Die Atembewegung konnte jedoch in dieser Stunde so weiterwachsen, wodurch sich unser Kontakt stabilisierte und Gisela B. endlich gesammelt zu bleiben vermochte. Unter dieser personalen Präsenz, konnten meine aufliegenden Hände Gisela B. nun präzise zeigen, wo etwas lebendig werden wollte, um an andere Bereiche angeschlossen zu werden, wodurch wiederum rückwirkend die Samm­lungs­aktivität meiner Atemschülerin gelenkt wurde.

     Dieses Aufmerksammachen speist sich aus der vital-pathischen Kraft der Hände, die bei einem Atemlehrer von Jahr zu Jahr stärker wird und aus seinem Kontakt suchenden Spürverhalten heraus gedeiht. Indem der Atemlehrer seine Hände auf die Atembewegung des behandelten Atemschülers empathisch ausrichtet und die Hände mit der Intention angelegt sind, dass er die Person meint, kann er in unvorstellbar nuancierter Weise auf erregungsgedämpfte oder überhelle Leibschichten einwirken. Durch ein transsen­sis­ches Ausrichten der Hände sind Verbindungen zwischen und zu verschiedenen Leibbereichen herstellbar, so dass auf diese Ansprache auch die Atembewegung antworten kann. Indem die Aufmerksamkeit des Behandelten dahin folgt, wo der Behandler mit seinen Händen hinspricht, stellt sich ein personal geschlossener Behandlungskreis her.

     Dass dieser Kreisprozess des Behandelns unterbrochen wird, wenn das Denken einkehrt, müsste ebenfalls jeden, der sich theoretisch um das Wesen des Bewusstseins bemüht, aufmerken lassen. Der Ursprung des Denkens ist bekanntlich in dem Mangel festzumachen, dass das animalische Bewerten und Wiedererkennen nicht mehr mit seiner Unterscheidungskraft ausreicht und ein be­wusstes Entscheiden nötig wird. Die Atembehandlung umgeht nun das informatorische Aufhellen der Bewusstseinsqualität und tritt stattdessen voll und ganz in das animalistische Resonanzgeschehen ein, indem sie von dem reflexionsfreien Aufgehen zweier Personen lebt. Die gegenseitige leibliche Animation führt nicht zu einem beidseitigen Aufleben der Atembewegung, wenn der Behandler gegenüber dem Atemschüler nicht „leer“ ist, er beispielsweise den Atem, die Person oder deren Aus­drucks­phänomene bewer­tet, ja selbst nur überlegt, was als nächster Behandlungsschritt zu tun ist.

     Wegen des sich bildenden Behandlungskreises begann die Atembewegung zwischen Nierengegend und Nabelfeld von innen her zu wachsen. Meine beiden Hände, die auf dem Lendenbereich lagen, hat­ten zunächst die Nieren gemeint und sich schließlich auf den Nabel ausgerichtet. Im Verlaufe des beidseitigen An­we­sendseins entstan­den Rückmeldungen der Atembewegung an die Hände, so dass sich ein sich selbst steigerndes Zusammenspiel zwischen beiden ergab. Aus dieser vitalen Unwillkürlichkeit entstand schließlich im oberen Nabelfeld ein spontaner Lösungsimpuls. Die Atembewegung drang in festgehaltenes Gewebe ein, was eine früher schon bemerkte Härte weichen ließ.

     Mit dieser Lösung zeigte sich die Atembewegung erstmals in ihrem ihr innewohnenden Selbstbewe­gungs­charakter, bei dem alle Ichtätig­keit ihre Rechte verloren hat. Dieser tritt aber nur in einer gegenseitigen sensorischen Stimmigkeit auf, bei der die Personen gemeint sind. Nicht nur die Person des Atemschülers muss angesprochen sein. Dieser muss zudem die Person des Atem­behandlers in ihren Begegnungsraum hereinlassen. Nur so entsteht eine Raumdichte, wobei  die „Kohärenz“ (Viktor v. Weizsäcker) der personalen Leibver­schrän­kung die Fähigkeit zur Sammlung verankert.

     Im Tonus, in den energetischen Verhältnissen der Hände und im gesamten Leib des Behandlers drückt sich dessen personale Haltung aus. Jede Absicht oder Ungeduld teilt sich über die Hände mit und zerstört das Gewachsene. Dabei befiehlt die Hand des Atemlehrers nicht. Sie bietet an und nimmt vor allem entgegen, schaut und hört. Dieses passive Eingelassensein, welches das geduldige Warten trägt, öffnet den Atemlehrer dafür, das zu beantworten, was vom Atemschüler kommt. Beim Entgegennehmen bildet sich das Maß, in dem mit den Händen zugeprochen werden kann. Ihr spürsames Auflegen geht in ein energetisches Reagieren über und umgekehrt lässt sich diese Bewegtheit wieder durch den Spürsinn ohne Dazwischenkunft des Bewusstseins führen, so dass schließlich in dieser vital-pathischen Partizipation das Fragen mit dem Antworten tauscht. Es findet ein „Atemgespräch“ statt.             

     Beim „Atemgespräch“ werden die in die Empfindung rückläufigen Bewegungen des fließenden Atems endgültig tragend, weil belas­tende Enneagramme durch das spielerische Ausprobieren von Verhal­tens­möglichkeiten aufgelöst werden. In der gegenseitigen Gelassenheit sowie Willens- und Wertungsleere kann bei beiden, Atemlehrer und Atemschüler, ein Atem entstehen, der alle Verflochtenheit mit den bislang erlebten Widrigkeiten des Lebens hinter sich lässt und nun beide, sowohl den Behandelten als auch den Behandler, erfüllt und den Kontakt in der Atembehandlung in eine menschliche Begegnung einmünden lässt.

     Das Mysterium des Atems offenbart sich erst in seinem unwillkürlichen Fluss, der als echte Selbstbewegung den ganzen Leib im ureigenen Rhythmus erfasst. Indem die Atembewegung feiner und energetisch feinstofflicher als jede sensitive Bewegung das Gewebe dehnt und drückt, durchdringt sie dieses zugleich lösend. Die Lösungen rufen unwillkürliche Innenimpulse hervor, die oftmals unterdrückt wurden und nun heftig oder sanft in die Bewegung drängen, wenn sie nach Ilse Middendorfs Atemlehre „in voller Hingabe“ zugelassen werden und „vor den Störmanövern des denkenden Verstandes“ geschützt sind.

     Die Atembewegung wird durch die Lösungsimpulse zur echten Selbstbewegung, da sie von innen kommt. Ohne äußere zentralnervöse Willensaktivierung als durch eine in der leiblichen Peripherie sich selbst bildende Bewegung differenziert, stimmt und wandelt sie die Tonusverteilung des Gewebes. Es ist dieser Selbst­bewe­gungs­charak­ter der Atembewegung, der das „echte Zwiegespräch mit sich selbst“ aufruft, das von der vordergründigen, über den Körper verfügenden Ichherrschaft befreit ist. In entstehen einer derartigen „phänomenalen Situation“ (Edmund Husserl) wird durch diese Unwill­kürlichkeit der Atembewegung die leibliche Pheripherie in eine Mitte zwischen innwenwelt und Außenwelt gesetzt. Derartig umgestaltet kann sie fortan dem Ich ihre eigenständigen Bedürfnisse melden. Sie durch eine Geformt­heit und Gerichtetheit hindurch freizugeben, ist das eigentliche Ziel der Midden­dorf­-Arbeit, die „Bewegung aus dem Atem“ genannt wird. Die den Muskeltonus unterscheidende Atembewegung kann die Person tiefgreifend wandeln.

     Die Selbstbewegung des Atems sollte bei Gisela B.  die Transzendenz weitertreiben, nachdem sich bei ihr von der hinteren Mitte aus
– gemeint ist der Atemraum zwischen dem neunten Brust- und dem dritten Lendenwirbel – ihre gesamte Atemräumlichkeit im Rumpf bei der Anwesenheit ihrer Person mit Bewegung füllte. Erst nachdem das Nabelfeld frei geworden war, wurde die selbstver­trauende Kraft aus dem mittleren Atemraum von unten gestützt, was Ruhe und Gelassenheit spendet. Damit war Gisela B. zudem wieder potentiell entschei­dungsfähig geworden.

     Durch die Begleitung meiner Hände und ihre persönliche Präsenz an der empfundenen Atembewegung konnte Gisela B. über die energetischen Verbindungen mit der Nabelkraft eine tragende Selbstgebor­genheit gewinnen, die bei ihr durch den zu frühen Verlust des Vaters beschädigt worden war und wohl weiter beeinträchtigt wurde, als sie ihre langjährige Beziehung verspielt hatte. So war es ihr auch versagt geblieben, eine Selbstgeborgenheit in der Beziehung zu dem Vater ihres Kindes zu leben, was diese wohl leidenschaftlich reizvoll, jedoch ohne durch das sphärenverdichtende Einleben einer Vielzahl von Atemräumen nicht zukunftsfähig gemacht hatte.

     Es sollte in dieser achten Behandlungsstunde – sie fand in einem nunmehr halbwöchent­lichen Behandlungsrhythmus statt, den außerdem eine wöchentliche Gruppenarbeit verdichtete – mit dem Freiwerden der Nabelkraft von Gisela B. nicht genug sein. Der Schwung der Stunde trug den dialogischen Austausch in der animierenden Ver­schrän­kung des Sensoriums zweier Personen weiter. Die Aktionen und Reaktionen in dieser gegenseitigen Vitalpartizipation sind Fragen und Antworten, Aufrufe und Stellungnahmen, aber auch Vermeidungen, Aus­weich­ungen sowie Absentierungen. Durch den günstigen Verlauf dieser Rede ohne Worte, dieses Gesprächs, das zwar ohne Be­wusst­­sein stattfindet, aber den seelisch-geistigen Informationsgehalt von beeinträchtigendemn Reso­nanz­beziehungen auslöscht, konnte sich Gisela B. mit ihrer Person auch jener tiefer ­liegen­den Konfliktdynamik stellen, die aus einem Verlust in ihrer Biografie rührte, was ihr Verhalten gegenüber Partnerschaften so tief geprägt hatte.

     Es trat ein heftiges Weinen auf, als sich durch den befreienden Atemfluss Erinnerungen an den jähren Verlust des eigenen Vaters ein­stellten und ihr gewahr wurde, wie sie monatelang am Fenster gesessen und auf seine Rückkehr gewartet hatte. Dies geschah in dem Moment, als sich der bei jedem Konflikterleben zerrissene mittlere Atemraum mit einem eigenständigen Impuls zu bewegen begann. Dieser letztere Lösungsimpuls war der Auftakt zu einer Atembewegung, welche endgültig die Spannungen wegfließen lassen sollte, die das Hohlkreuz von Giesela B. hielten.

     Wird ein Hohlkreuz von Spannungen im mittleren Atemraum gehalten, muss sich das Ich mit Hilfe von seelischen Abwehrprozessen behaupten. Denn durch ein Hohlkreuz wird das individuelle Handeln von der Bindung an die eigene Vitalität, der Becken- und Kreuzbeinkraft, abgetrennt. Wenn sich die „Erdung“  nicht im Aufbau des Lagetonus vollenden kann, wird es schwieriger, einen sensorischen Hinter­grunds­raum zu halten, der den individuellen Horizont des Verhaltens stabilisiert. Ist der Atemraum im sensorisch Rückwärtigen nicht in der eigenen Vitalität verankert, so hat die Person in einer sozialen Situation nicht den Rücken frei, weshalb sie keine Selbstverständlichkeit durch  Vertrauen zu sich selbst und zum anderen leben kann. Sie ist gezwungen, ständig das am besten schweigsam wirkende Gut Atemhinter- grund zu verknappen. Diese bevorratet die Gesellschaft mit ihren vielfältigen Handlungs- und Verhaltensroutinen in den verschiedenen sozialen Klassen und Milieus, wodurch die individuelle Existenz zur „sozialen Tatsache“ (Emilie Durkheim) wird.

     Die Atembewegung von Gisela B. schwang beim Frei­werden des Eigenrhythmus in die Tiefe des Zentrums dieses mittleren Raumes zurück. Es entstand außerdem aus diesem Zentrum selbst eine Aus­atem­richtung nach unten ins Beckenbodenzentrum und nach oben ins Kehlkopfzentrum. Damit waren die Atemräume von Gisela B. zueinander ins Maß gesetzt, damit sie den verschiedensten Modifikationen in den potentiellen Handlungs- und Verhaltensweisen gerecht werden konnten. Sie war nunmehr auch beim Ausatmen an ihre eigene Vitalität zurückgebunden und das – offenbar durch den frühen Tod des Vaters – verletzte Nabelfeld war in dieser existentiellen Situation der Atembehandlung als Kraft durch Anschluss an den unteren und mittleren Atemraum wiedergewonnen. Mit dem Aufblühen der Nabelkraft konnte Gisela B. beginnen, Wurzeln zu schlagen, die allerdings bei ihr besonders gehegt werden mussten, damit sie ihrem Kind Heimat geben konnte.

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