A T E M R A U M
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 Inhalt:

Kardinalbeziehung der Transzendenz (154)
Sensorische Unterscheidungsfähigkeit (164)
Sphärenkonstitution (174)
Produktive und kreative Spannungsintegration (181)
Selbstversenkung (189)
Der personengebundene Aspekt der Atemerfahrung (199)
Vokalatem als sensorische Raumbeziehung (207)
Die entscheidende Atembehandlung (214)
Der atempädagogische und der (körper-)psychotherapeutische Zugang (222)
Die Atembewegung als das gemeinsame Dritte von Körper und Seele (230)
Das Atemgespräch (237)
Die Personenbezogenheit der vitalen Pathie (252)
Die Atembehandlung im Vergleich zur Psychoanalyse (244)
Zwischen der sozialkulturellen Form der Seele und der Animalogie des Atem (250)
Die Atemruhe (257)
Das Weibliche als Anmuten (272)
Mutter- und Frausein (278)
Was gewiss ist (284)

zum Gesamtverzeichnis von “Person und Sinn”

 

 

 

 

 

 

Kardinalbeziehung der Transzendenz
Das vergangene Jahrhundert hat viele Gesichter. Wir schauen auf das wenig bekannte Antlitz der eigen- ständig entwickelten Atemarbeiten des Westens. Diese wurzeln auf einem vortheoretisches Erfahrungs- gebiet, zu dem bislang nur einige wenige wissenschaftliche Hilfsbrücken gebaut worden sind. Dies hat nicht nur historische Gründe, die in dem Traditionsbruch von 1945 liegen. Mit dem Atemthema stellen sich vor allem bewusstseinstheoretische Fragen, die im Verhältnisses von Körper- und Seele sowie Leib und Geist angelegt sind und insgesamt einer wissenschaftlichen Lösung hartnäckig Widerstand entgegensetzen:

     Atemarbeit scheidet. Sie verlangt, die kulturellen Grenzsetzungen der Rationalität auf ein gemeinhin esoterisch verstandenen Gebiet hinauszuschieben, auf dem sich Energetisches durch informatorische Einflüsse nach dem Resonanzprinzip organisiert. Derartige Vorgänge sind im Rahmen der klassischen Begrifflichkeit von einem ausgedehnten Körper und einer im entgegengesetzten Substanz nicht mehr zu begreifen. Dennoch muss man auf nichts Ungehöriges verweisen, wenn man die Übergänge beachtet, welche die Atembewegung zwischen Sinnefeld und der Bewusstseinstätigkeit des Ichs herstellt. Es ist nämlich mehr als ein Muskelstoff zu besichtigen, welcher der Aufrechterhaltung der Funktion der Sauerstoffaufnahme und des Abtransportes der Stoffwechselreste dient. Die Zwerchfelltätigkeit weist von vornherein über ihre physiologische Stoffwechselfunktion hinaus, weil die Atemfunktion mit der Regulation des geweblichen Tonus sowie allen vegetativen Kreislaufprozessen und sonstigen physiologischen Funktionseinheiten, also mit ziemlich allem verknüpft ist. Und der enge Zusammenhang zwischen Atem und Bewegung hat eine Rückseite im Verhältnis der Atembewegung zur Empfindung. .

     Es existiert ein vital-pathische Reich, das durch den pädagogisch-therapeutischen Umgang mit den Empfindungen erkundet wird, die durch das Atmen ausgelöst werden. Empfindungen, welchen die klassische Philosophie mit guten Gründen keinen unmittelbaren Erkenntniswert zugestehen kann, sollen der unhintergehbare Grund einer westlichen Atempraktik - namentlich der dem Erfahrbaren Atem von Ilse Middendorf sein, bei der außerdem nicht einmal gedacht, sondern nur noch erlebt werden darf. Denn diese wohl prominenteste Atemlehre des Westens liegt auf einem eigenen Gebiet, das sich der dinghaften Erfassung durch die Gesetze der Physik entzieht und das jenseits des Gegensatzes von körperlich und seelisch angesiedelt ist.

      Bei einer derartigen Sachlage ist mit Voreingenommenheit nicht das Geringste zu klären. Da der einfache Werkstatteinblick, der nur schildert, was in der Atemerfahrung geschieht, kaum mehr hinreicht, um die Gegensätzlichkeit der beiden Seiten des Atemphänomens zu überwinden, gilt es zunächst das Feld zu markieren, auf welchem die anthropologische Bedeutung der Atem­bewegung gesichtet werden kann. Denn es gilt das Terrain einer therapeutisch-pädagogischen Wirksamkeit zu erhellen, die wohl so direkt weder durch eine Psychoanalyse noch durch sensitive Körperarbeiten, weder durch den Einsatz von sanften Massagepraktiken noch mittels willkürlicher Atemtechniken erzielt werden kann.

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Das enge Gebundensein des Verlaufs der Atembewegung an die Schwerkraft zeigt sich in der Raumbildung, zwischen dem sich absenkenden Zwerchfell und dem Beckenboden, der dessen mitschwingender Antipode ist. Der Punkt, an dem bei einer Vollatembewegung die Atembewegung einsetzt und zu dem sie zurückkehrt, fällt mit dem Schwerkraftpunkt des Gesamtkörpers zusammen. Er liegt  in der Mitte auf einer gedachten Linie im Becken, die sich etwa 2-3 cm unterhalb des Nabels zur Mitte des Kreuzbeins hinzieht.  Dieser Atemimpulspunkt, dessen Aktivierung und Vitalisierung Ausgang vieler subtiler Arbeitsweisen im middendorfschen Erfahrbaren Atem ist, wird in anderen Praktiken auch Hara-Chakra genannt.

     Der Bezug auf die Gravitation verweist uns des Weiteren auf die ani­­ma­lische Grundlegung der menschlichen Existenz, die vor aller Bewusstseinstätigkeit in ein Sinnenfeld eingebunden ist. Im sensorischen Verhältnis von innen und außen hat der Mensch seine Mitte zu finden, indem er nach dem Resonanzprinzip präkognitiv und präverbal wertet und dadurch sowohl die Außenwelt in sich herein nimmt und seine Sinnesorganisation selbst vermittels dieser Hereinnahme des Außenraums in den Innenraum schafft.. Wir sprechen nicht nur vom Empfinden, sondern auch vom Befinden in einem vital-sensorischen Raum. Bei diesem aber spielt die Atembewegung die Schlüsselrolle.     

     In der nervalen Peripherie entfaltet sich die Atembewegung variabel. Sie stellt ein Ereignis dar, das bei einer Vollatembewegung mit Formprinzipen ausgestattet ist und darin gegenüber den Steuerungsimperativen der Gehirnaktivität relativ selbständig ist. Wir sind deshalb aufgefordert, die Atembewegung als ein sensorisches Medium zu begreifen, über das der durch seine Leibhaftigkeit in Innen-Außen-Verschränkungen gestellte lebendige Organismus millionenfache Informationen nach dem Reso­nanzprinzip verarbeitet. So wie etwa die Saite eines Klaviers erklingt, wenn eine Stimmgabel in gleicher Tonfrequenz angeschlagen wird, so wird auch die Atembewegung durch ins Außen drängende Innenimpulse und passende Außenreize informatorisch angeregt sowie durch das Eigene störende Fremdschwingungen beeinträchtigt.

Auf was es uns besonders ankommt: Die erstaunliche Modifizier­barkeit der Atembewegung verdankt sich nicht nur den vegetativen Geboten des Stoffwechsels und der wechselseitigen Beziehung zur Organtätigkeit, sondern vor allem den Eindrücken aus der Umwelt und dem Ausdruck innerer Strebungen. Die Möglichkeit einer Vollatembewegung, bei der sich der gesamte Rumpf bewegt und die Extreme bis in die Fußzehen und Fingerspitzen sowie den Scheitel des Kopfes hinein energetisiert werden, ist weniger von vegetativen Impulsen getragen als von tonisch-sensorischen Verhaltensweisen in einem vital-sensorischen Bewe­gungsraum bestimmt. Der mit der Atemarbeit verbundene Leibgedanke lebt deshalb davon, dass sich das Lebendige vor aller Be­wusst­seinstätigkeit, im Wechselspiel mit ihr sowie im eigenständigen Gegensatz zu ihr durch einen informatorischen Austausch zwischen Innen- und Außenwelt reguliert. Das Seelische aber vermittelt nur den sinnlich-sensorischen Grund mit den intelligiblen Funktionen des Ichs, die kulturell, sozial und geschichtliche gebunden sind.

Wenn wir uns auf die Atembewegung im Interesse der Selbstvergewisserung beziehen können, so sind vielerlei, aber selbst vom in der Sache Kundigen kaum noch überschaubare Praktiken möglich. Die klassisch gewordene Körperpsychotherapie, die auch den Atem nutzte und beachtete, kennt in besonderer Weise die kulturhistorisch organisierte Seele und kritisiert deren historische Matrix der gesellschaftlichen Zwangseinkehr in die menschliche Eigennatur. Die eigenständig entwickelten Atemtherapien des Westens wussten aber durch ihren weitaus subtileren und auch eigenständigen Umgang mit der Atembewe­gung, dass weder die Herrschafts- noch Zivilisationskritik deren seelisch-geistigen Wesen gerecht wird. Mehr als sie es wissen konnten, erahnten sie und waren sich auch darin gewiss, dass sich in der Atemschwingung ein animistischer Infor­ma­tionsstoff niederschlägt, der die Beschäftigung mit dem Atmen von vornherein eine ambivalente Angelegenheit werden lässt.

     Die an Atemzustände gebundene seelisch-geistige Information nährt die Eso­terik, mit seiner Hilfe flicht die Religiosität ihr soziales Band und aus ihm gewinnt die Spiritualität ihre existentielle Dimension. Der kulturelle Fundus wähnt im Atem die Kardinalbeziehung der Transzendenz. Der Umgang mit der Atembewegung und mit dessen Bezug zur Empfindung organisiert sich geradezu an einer Einbruchstelle rationaler Handlungsfähigkeit. Die Möglichkeit ist groß, sich auf einem angepriesenen „Weg“ zu verirren und die so­ziale Teilhabe zugunsten des kleinkarierten Gemurmels in einer esoterischen Ver­gemein­­schaftung zu verlieren. Die Beschäftigung mit dem Atmen ist jedenfalls aus sich heraus nicht dagegen gefeit, zu vormodernen Mystifikationen des religiösen Leibes zurückzukehren, mit denen das cartesia­ni­sche Ich gebrochen hat. Im Gegenteil: Die Gefahr ist groß, geradezu dem Druck einer irrationalen Welterklärung zu unterliegen.

     Mit René Descart­es war das trans­zendentale Subjekt geboren, wodurch eine säkulare Begründung der Werte und Ethik möglich wurde, mit welcher die Aufklärung der Moderne in die Geschichte eintrat. Descartes ging es noch um eine Umwertung der aristotelisch-scholastischen Traditionen, um möglich viele der ange­­stammten vegetativen und sensitiven Funktionen zum Gegenstand wissenschaftlicher, zunächst kausal-mechanischer Erklärungen zu machen, ohne die rational verstandene Seele als Instanz des freien Willens und moralischer Verantwortlichkeit zu gefährden. Gegenüber der schroffen Entgegensetzung von Bewusstsein und Körper in der cartesianischen Selbstver­gewisserung des Ich, das bekanntlich deshalb sein kann, weil es denkt, formulierte die klassische Philosophie des deutschen Idealismus Ausgleichsprinzipien.

     Nachdem durch die Arbeit der philosophischen Aufklärer das vernünftige Subjekt nicht mehr auf Gott zu beziehen war, lehrte schließlich die Klassik der deutschen Philosophie die rationale Formung der leiblichen Regungen, indem sie auf das trans­zendentale Ich einschwört. Jedem Empirismus war dadurch bereits ein Erkenntnisproblem aufgegeben. Die unmittelbare Erkenntnismöglichkeit in der Anschauung der Natur war durch Immanuel Kants metaphysische Kehre, die auf den Empirismus von David Hume antwortete in Frage gestellt. Da das sinnliche Empfinden und das kognitive Wahrnehmen auseinander treten können, kann es gar nicht anders gehen, als dass wir  beim Erkennen unsere Anschauungen in die Natur hinlegen. Das erkennen dieser Vorgängigkeit aller Erkenntnis durch die Beschaffenheit des Subjekts gilt als die eigentliche Errungenschaft des klassischen philosophischen Denkens, die im vergangenen Jahrhundert durch Martin Heideggers Kritik der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung erneuert worden war.

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     Die Verfahren der Psychotherapie, gerade auch die Übertragung- und Gegenübertragung als Schmier- mittel des psychoanalytischen Prozesses, sind nicht, auch wenn sie kulturhistorisch besonderte Seelen- strukturen abbilden, ohne leibliche Resonanzphänomene zu verstehen. Dass ein seelisch-geistiger Informa- tionsaustausch durch das Anstoßen übereinstimmender oder die Selektion widerstreitender Frequenzen stattfindet, ist inzwischen auch der Psychologie bewusst geworden. Bereits in der systemischen Sichtweise des Kommunikationverhaltens (Bateson, Laing, Watzlawick) werden die Wechselwirkungen zwischen den Menschen thematisiert, die durch Informationen, Energieflüsse und Schwingungen hergestellt werden..

     Alles Leiden an Reminiszenzen geht nämlich durch die Leiberinnerung hindurch, die muskeltonisch-atembewegt gründet und deshalb durch körperpsychotherapeutische Verfahren genutzt wird. Die Primärtherapie von Arthur Janov, welche die Reizmuster eines frühen Traumas ins Schwingen bringt, um den abgelagerten Urschmerz abzuführen, gehört ebenso zu jenen therapeutischen Arbeiten, welche die elementaren Körpergravitaturen gegenüber bekannten Erlebnisstrukturen nutzen, wie die Gestalttherapie von Fritz Perls oder die Transaktionsanalyse von Eric Berne. Auch dem populär gewordenen Familienstellen nach Hellinger genügt es nicht mehr, in den Nebentönen mit geistesgegenwärtigem Analyseverstand heraushören, wie jemand zu einem anderen Menschen steht. Sie nutzen allesamt die intuitive Intelligenz der Teilnehmer, die durch Resonanz eingestimmt wird und im gegenüber dem Bewusstsein relativ selbständigen Leibverhalten wurzelt. Im leiblichen Ausdruck kann erlebt werden, wie positive oder negative Schwingungen als Wohlbehagen oder Missempfinden ankommen.

     Nach den Erfahrungen der westlichen Atemarbeit ist das Ich, das denkt, wahrnimmt und den Körper bewegt, leiblich abgestützt. Auch hirnphysiologische Erkenntnisse der neueren Zeit bestätigen die von der Leibphilosophie des vergan­genen Jahrhunderts gesicherte Erkenntnis, wonach es unterhalb des Neokortex ein Organisationszentrum geben muss, das als Gegenpol zu den sozialkulturell gestützten Werten entscheidend die Qualität des Seelenlebens definiert. Durch ein praktisches Verfahren, den Erfahrbaren Atem von Ilse Middendorf also, soll die im vergangenen Jahrhundert durch die Phäno­meno­logie, die Existenzphilosophie sowie die Philosophische Anthropologie und die anthropologische Medizin aufgewordene  Leibfrage bezeugt werden.

     Bislang hat sich das naturwissenschaftliche Interesse noch nicht auf die zell- und molekularbiologischen Aspekte der Atembewegung aus­gerichtet und gefragt, welche Rolle diese ständige Bewegtheit, in welche die gesamte muskuläre Reflexorganisation und alle vegetativen Funk­tionsmechanismen involviert sind, für die Arbeitsweise der Gene und die Produktion der Eiweiße hat. So stellt sich die Frage, ob mit einer vertieften molekularbiologischen Forschung, welche die Atembewegung in den Blickpunkt ihres Interesses nimmt, die Kluft überbrückt werden könnte, die zwi­schen den traditionellen Denkweisen der quantitativen Biologie sowie der Anatomie, der Physiologie und der Neurologie und der Anschauung sowie Erfahrung der Atembewegung existiert.

     Die an der dinglichen Sicherung orientierten Begriffe der experimentellen und theoretischen Wissen- schaften könnten zwar das Atemgebiet so weit aufschließen, wie es dem energetisch-informatorischen Bereich des Lebens entspricht. Da sie aber nicht eine Spur Ahnung von dem qualitativen Aussehen der Natur haben, ja die molekularbiologischen Forschung die Abstraktionen in endlosen langen Buch­staben­reihen vorantreibt, dürfte auch diese gegenüber der anthropologischen Bedeutsamkeit des Atemgeschehen leistungsunfähig bleiben. Die konkrete Atemweise des middendorfschen Erfahrbaren Atems bewegt sich zwar auf einem strukturgesetzlichen Terrain, aber dies gehört dennoch nicht zu dem Gültigen, das etwa dauerhaft zur systematischen Fixierung taugt. Offenheit der Entwicklung ist angesagt.  Denn die jeweilige Atemweise verwirklicht oder verfehlt biologische Strebungen.

     Dementsprechend zielt die Atemarbeit auf die individuelle Modulation instabiler Vitalschichten im Reichtum des pluralen Verhaltens und nicht auf die objektiven Gesetze der Pathologie. Erfahrung, Emp- findung und Intuition, Anschauung und Pathie sind in dieser personenbezogenen Kunst des Heilens, des Erlebens und des Lebens führend, wobei die verschiedensten Meinungen über die Antriebe des Lebens, das Verhältnis von Natur und Kultur und den Umgang mit der Eigenbefind­lichkeit hineinspielen. Wird aber derart zugespitzt die anthropologische Frage gestellt, erschöpfen sich einerseits die traditionellen Erkenntnismittel des transzendentalen Ichs, um die im ausgezeichneten Maße in der deutschen Philosophiegeschichte gerungen wurde. Andererseits aber ist den Wissenschaftler und Philosophen, die sich im vergangenen Jahrhundert mit der Frage des Leibes beschäftigt haben, diese zunehmend rätselhaft geworden.

     Das Atemgebiet kann offenbar innerhalb der Grenzen der einzel­wissen­schaftlichen Rationalität gar nicht mehr hinreichend erkund­schaftet werden. Viel spricht dafür, dass die Atemfrage ebenso wenig wie der psycho-physische Dualismus oder die Bewusstseinsfrage gar nicht durch die Wissenschaften lösbar sein wird, ja vielmehr die Grenzen von deren Rationalität sichtbar macht.
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Sensorische Unterscheidungsfähigkeit
Wie so oft in der Atemarbeit sollte sich auch bei Karla H. als durch einen tief in der Biografie eingegrabenen Konflikt verursacht erweisen, was zunächst als physiologischer Defekt erschien, der in der Medizin unter der Rubrik „funktionelle Störung“ eingeordnet wird. Wir wollen im Unterschied dazu deren personenbezogene und sinnhafte Bedeutung aufzeigen, die uns auf die mögliche Perspektive eines personalen Wandels durch Atem- erfahrung hinweist.

     Unser Werkstatteinblick betrifft die Atembehandlung einer Gymnastiklehrerin. Karla H. hatte eine drei- jährige Psychoanalyse hinter sich, übte sich seit Jahren im Yoga. Sie hatte darüber hinaus manch andere wilde Praktik vom Markt der Körper- und Psycho­therapie ausprobiert, auf dem heut­zutage so vieles unterschiedslos als die Gesundheit und die Selbstentfaltung fördernd angepriesen und überhaupt nicht reflektiert wird, dass die unterschiedslose Anwendung derartiger Praktiken auch in der seelischen Verelendung und schließlich der Erkrankung enden kann. Dies gilt auch - sagen wir es ruhig deutlich - auch für ein unversiert angeleitetes Atmen, durch das die Muskulatur nur durchlässiger wird, die Atembewegung keine muskeltonische Kraft ausbildet, wodurch früher oder später das Erleben des eigenen Körpers in der Selbstbeobachtung erstarrt, weil auf keine Formbildung in der Anlage der Übungen abgezielt wird oder weil in der Alternativmedizin erkannte Heilhindernisse (dentale oder geopathische Belastungen) die Selbstzuwendung fehlleiten, so dass durch das Atmen nur ein subjektivistischer Druck erzeugt wird, der kindliches Verhalten nach sich zieht.

     Karla H. hatte mit anhaltenden Schmer­zen im Kreuzbein zu kämpfen, die sich besonders bemerkbar machten, wenn sie sich im meditativen Tanzen geübt hatte, das bei ihr vom Hobby zu einen beruflichen Unterrichtsgegenstand avanciert war. Sie sah überhaupt ihre Arbeitsfähigkeit bedroht, weil diesem Malheur weder durch homöopathische Medikamente und isopathische Ausleitungen noch durch Bachblüten, Salben, Bäder sowie Massagen abgeholfen werden konnte.

     Betrachtet man die Atembewegung von Karla H., so dürfte auch der kundigen Krankengymnastin, die sie aufgesucht hatte, bis sie ihr Arzt schließlich an mich weiterverwies, nichts Abnormes aufgefallen sein. Auf den ersten Blick bot Karla H.s Atem das Bild einer Vollbewe­gung, die sowohl ihren Bauch­raum als auch ihren Brustkorb weitete und ihren ganzen Leib lebendig durchströmte. Weder bestand auf den Wirbel­seg­menten eine beeinträchtigende Spannung noch war ein Beckenfehlstand vorhanden. Nach klinischen Kriterien war kein pathologischer Befund feststellbar.

     Zu Beginn unserer Zusammenarbeit zeigten sich auch keine muskulären Verhärtungen oder besondere Kontrak­turen, die den Atemfluss blockiert oder aufgestaut hätten. Weder hätte eine biodynamische Massage nach Gerda Boyensen vordergründig gesehen Ansatzmöglich­keiten gefunden noch hätten bioenergetische Übungen im Sinne von Alexander Loewen gegriffen. Bei Karla H. waren weder Verfestigungen aufzumassieren noch eingelebte Reizschwellen ihrer Reflexe so durch span­nungs­steigernde Körper- und Atem­techniken zu bedrängen gewesen, dass Blockaden der Muskelsinne weggeflossen oder gar spektakulär aufgeknallt wären.

     Eigentlich bestand in der Atembewegung von Karla H. nur ein geringes, aber dennoch entscheidendes, nämlich ein personenbezogenes Ungleichgewicht. Ihre Muskulatur war zwar geschmeidig, aber deren hohen Reizempfänglichkeit fehlte eine dementsprechend elastische Abwehr­fähig­keit gegenüber Außen­ein­flüssen. Ihre Muskulatur wurde nämlich zu wenig durch die Atembewe­gung gefüllt. Ihre gegenüber der hohen muskulären Durchläs­sigkeit zu geringe Atemkraft mussten deshalb durch zu hoch gespannte Sehnen kompensiert werden. An diesen über die Gelenke greifenden Muskelenden waren die unter den Händen spürbaren Impulse der Atembewegung zu hart.

     So zumindest war die erste Sichtung. Erst später im Fortschritt der Arbeit und nach der schrittweisen Aufhebung dieses Ungleichgewichts sollten die subtilen Atemmodalitäten ihrer seelisch-geistigen Verfasst­heit offenbar und behandelbar werden. Dies ist immer so. Das Eigentliche wurde auch bei Karla H. erst deutlich unterscheidbar, nachdem sich die Muskulatur mehr mit Atembewegung gefüllt hatte. Doch dies war erst dann möglich geworden, nachdem ein Besuch bei einem wirklich biologisch arbeitenden Zahnarzt eine kleine Kunststoffplombe entfernt hatte, die biologisch inkompatibel war und ihre Atembewegung so störte, dass dieses Ungleichgewicht nicht allein durch Atemarbeit beseitigt werden konnte. Zu dieser Problematik habe ich bereits eine umfassende Studie vorgelegt (Ruinöse Zahnwerkstoffe. Wie Kunststoffe in der Mundhöhle die Atembewegung stören, 2. Auflage 2001). 

     In diesem zunächst so vorliegenden tonischen Kostüm lag be­grün­det, weshalb Karla H. zwar über eine außergewöhnliche Rea­gibilität der Atembewe­gung verfügte, aber deren sensitiver Modus nicht an ihre Person angebunden war. Der hohen Variablität der Atembewe­gung war zwar eine differenzierte Verfügbarkeit im Bewegen zugesellt, aber diese blieb mechanisch und gemacht, daher ausdrucksarm. Ihrer hohen Empfindsamkeit und Durchlässigkeit der Muskeln für die Atembewegung fehlte das Be­seelt-sein und gab ihrem Aussehen trotz außergewöhnlicher Schönheit etwas Starres.

     Es ermangelte Karla H. an einer selbstverständlichen Gelassenheit. Deren bedarf es, um sich voll in den vital-sensorischen Bewe­gungs­­raum ausdehnen und in ihn hinein ausstrahlen zu können. Stattdessen war ihre Selbstkonzentration gesteigert. Dies ließ sie den eigenen Körper kaum raumhaft erleben, sondern ihn fast nur in der Fläche ausgedehnt empfinden, was eine Zustandsbefindlichkeit war, wel­che sie tendenziell die Körpergefühle phantasieren ließ. Dem entsprach eine sich zusehends in der Atemarbeit zeigende atemenergetische Dynamik, die keine im Hintergrundsraum verankerte Selbstgeborgenheit erlaubte.

     Im Fortgang der Zusammenarbeit mit Karla H. wurde zunehmend auffälliger, dass bei ihr der Einatemimpuls in der Rumpfmitte unterhalb des Zwerchfells hin zum Nabel etwas gebremst auf Kon­taktangebote meiner Hände reagierte. Versuchte ich in dieser Gegend mit Karla H. mittels meiner Hände in Kontakt zu kommen, reagierte ihr nach wenigen Zügen spontaner werdender Atem folgendermaßen: In der letzten Phase des Einatmens zerfloss die Atembewegung nach oben in den Schultergürtel. Durch diese sensorische Abwehr- losigkeit wurden Informationen aus dem Außen ohne innere Reserve hereingelassen. Auf die Ansprache meiner Hände reagierte sie zunächst völlig gegensätzlich zu ihrer ansonsten Distanz ausstrahlenden Erscheinung wie ein aufsaugender Schwamm.

     Dieses Zerfließen der Einatembewegung ist etwa von einem die Welt fernhaltenden Aufstauen im Übergang zum Ausatmen zu unterscheiden. Dieser zum Kontrast erwähnte Atemvorgang des Aufstauens kommt dadurch zustande, dass in der letzten Phase der Einatembewegung eine verstärkte nervale Innervation der Atemhilfsmuskulatur um den Hals und Schultergürtel wirkt, die atemmechanisch als eine Notatmung zum Ausgleich von Belastungen gilt und den Brustkorb mehr oder weniger hochzieht. Deshalb vermag sich beim Aufstauen selbst mit üppiger Atemweite ebenso wenig wie beim Zerfließen eine Ausspannqualität aufzubauen, die das lange oder tiefe Ausatmen zu fördern hätte. Zerfließen und Aufstauen der Einatembewegung gründen in einer ungleichgewichtigen Zwerchfell-Rippendynamik und diese war in diesem Fall - wie so oft - durch die genannte dentale Belastung mit hervorgerufen.

     Beim Zerfließen schwingen die nicht am Brustbein befestigten unteren Rippen sehr impulshaft an, können aber keinen weiten Span­nungs­bogen in der Einatemweite aufbauen. Die Einatembewe­gung beginnt zu zerrinnen bevor sie durch ihren Spannungsaufbau in eine Ausatembewegung übergeht. Die Einatembewegung ist keine Mobilisierung der eigenen Fülle, die dann durch dynamisierende Ausatemimpulse der Zwischenrippenmuskulatur zur Aktion aufplatzt und durch eine Ausatembewegung Richtung gewinnt. Das bereits im Einatem einsetzende Zerfließen zeigt an, dass sich die Person am liebsten nur noch hingeben würde, obwohl eigentlich die Situation eine personale Stellungs­nahme verlangt.

     Auch das Aufstauen ist eine ins Negative umgekippte Form des passiven Einwirkens auf die Welt. Bei ihm geht es dagegen  zunächst zu langsam voran. Dem in der Atempause sich aufbauenden Einatemimpuls fehlt der Drive, den das Zerfließen im Übermaß hat. Was nur zögernd in Fahrt gebracht ist und sich entsprechend der Situation transsensisch hinaus fließen sollte, hat es in der Endphase der Einatembewegung eilig und wird durch einen leicht hochgezogenen Brustkorb doch nur bei sich behalten. Denn das Brustbein hilft der trägen Einatemschwingung mit einer höheren Spannung und Nach-vorne-Stellung auf die Sprünge, wodurch der gesamte Brustkorb ohne inneres Dif­fe­ren­zierungspiel der Rippen gezogen wird. So staut sich schließlich die Einatembewegung im Schultergürtel auf und vermag nicht mehr in die Bewegung des Ausatmens hinüber zu schwingen. Dieses verpufft.

     Wenn die Abwehrfähigkeit der Muskelsinne wie bei Karla H. zu gering ist und deren Empfindsamkeit zu hoch, wird das sensorische Über-sich-hinausleben in­stabil. Das transsensische Ausdehnen in den Raum ist das Merkmal eines guten Kontaktes. Der esoterische Name dafür lautet Astralleib. Diese sensorische Raumeinfindung war also bei meiner Atemschülerin nicht wie etwa bei einem neurotischen Charakterpanzer starr eingeengt, sondern sie schwankte vielmehr zwischen übergroßer Weite und reservierter Zurücknahme bis hin zum sensorischen Rückgang in sich selbst.

     Eine derartige Betrachtung lebt von einer an der Atembewegung orientierten und in jahrzehntelanger Arbeit geübten Spürfähig­keit. Solche pathischen Wahrnehmungen über die Hände haben einen vitalen Charakter.. Sie entstehen in einem variantenreichen Bewegungsfeld, das vor allem auch durch die situative Beziehung eines Atemschülers zum behandeln­den Atemlehrer gekennzeichnet ist. Sie führen zu einer personenbezogenen Aussage über eine leibliche Charakteristik. Letztere aktiviert sich situativ in der Atem­behandlung, wenn eine über die Hände spürbare Relation identifiziert wird, in welcher die Innenimpulse und Außenanregungen ineinander übergehen. In unserem Falle der Arbeit mit Karla H. ist sogar zu vermuten, dass die Ungleichgewichte in dem entscheidenden Punkt derart zugespitzt in ihrer sinnhaften Bedeutung virulent wurden, weil sie nur in der Arbeitsbeziehung mit einem Mann so deutlich ansprechbar werden konnten.

     Die Atembewegung des Na­belfeldes, die als Nähe-Distanz regulierende Kraft der Selbstgebor­gen­heit so entscheidend für die Gestaltung von Partnerschaften ist, war bei Karla H. nicht mit der des Kreuzbeins verbunden, in dessen Bereich sich nach intensiven Bewe­gungs­be­las­tungen der Schmerz mel­dete. Dem bioenergetischen Feld des Nabels fehlte die Weichheit, die nötig ist, um der Welt empfangend zu begegnen, um letztendlich das unbekannte Innere in den Austausch mit ihr zu bringen. Das Selbstgebor­gen­heitspotential der Nabelkraft gestattet primär, sich seiner selbst gewiss, ohne zu zerfließen und ohne enge Abwehrgrenze bzw. starren Brustkorbbewegung, gelassen im Aufnehmen, Austauschen und Überströmen nach vorne zu leben. Nabelfeld, als Regulation des Tanzes zwischen Nähe und Distanz, Mitte zwischen Innen und Außenraum sowie Öffnung des Herzraumes sind die entsprechenden Atemgestalten, durch welche diese in den Vordergrund hinaus zu lebenden Verhaltensweisen getragen werden.

     Über das Nabelfeld definiert sich der Inbegriff des unverstellten Ver­haltens. Für dessen Realisierung bedarf es zweierlei: Erstens muss das Nabelfeld an den Hintergrundsraum angebunden sein, dessen Füllung atemdynamisch durch die Vitalkraft des Kreuzbeins über die Wirbelsäule, vom Steiß bis zum Hinterhauptsloch am Kopf energetisch gespeist wird. Die Kreuzbeinkraft als atemenergetischer Antrieb war aber bei Karla H. - wegen ihrer Schmerzen - nur latent vorhanden und musste durch den Kontakt in der Atembehandlung erst regeneriert werden.

     Wir hatten es also in ihrem Fall mit einer deutlichen Vitalitätsminderung zu tun. Wegen dieser war auch keine energetische Rückbindung des Nabelfeldes zum Atemimpulspunkt im Becken vorhanden, über welchen sich die Nähe-Distanz-Regulation in die Schwerkraft einfügt. Wir wissen bereits, dass bei einer Vollatembewegung der Atemimpulspunkt mit dem körperlichen Schwerkraftpunkt zusammen fällt. Diese Strukturgesetzlichkeit hat für die Nähe-Distanz-Beziehungen in Partnerschaften einen eminente Bedeutung. Solange Partnerschaften in derartigen Schwerkraftfügungen zueinander in Resonanz stehen, wirft sie nichts um. Fehlt dieses energetische Fundament dauerhaft oder wird es situativ verletzt, so bedarf die Nähe-Distanz-Regulation des Ichs. In diesem Fall ist das obere Feld des Nabels überenergetisiert. Fehlt diese leibliche Gefügtheit in einer Partnerschaft, geht nichts von alleine. Das situative Eingepasst-sein im vital-sensorischen Resonanzkreis beim Handeln und Verhalten muss immer wieder durch einen reflexiven Bewusstseinsakt unterbrochen werden, um eine passgenaue Kohärenz in der sensorischen Verschränkung der Leiber in der gemeinsam bewohnten und geschaffenen Sphäre  herstellen zu können.

     Und zweiten gründet die Sprache des geöffneten Herzens im vital gebundenen Nabelfeld. Diese blüht aber nur auf, wenn sowohl Herzraum als auch Nabelfeld an die auftreibenden Atemkräfte aus dem Becken angeschlossen sind. Das Schmalwerden beim Ausatmen nach dem weitenden Einatmen  gibt mit dem Zurückgehen des Schwerfells einen Empfindungssog nach oben, in der die Aufrichtung durch die Richtungsgebung der Atembewegung stabilisiert wird. In der Middendorfarbeit wird vom „aufsteigenden Ausatem“ gesprochen. Wenn die Atembewegung in das Schwerefeld der Erde eingepasst ist, gelingt auch die exzentrischen Positionierung im Raum. Sie kann auf einer transsensischen Leiblichkeit gründen, die allen Einstellungen und Absichten des Ichs vorangeht und gewährleistet, dass wir überhaupt zu etwas fähig sind.

     Die Selbstgeborgenheit im unverstellten Nach-vorne-leben, gelingt nur, wenn das Nabelfeld mit dem Hintergrundsraum verbunden ist. Mit dem Aufbau eines individuellen Horizonts, der sich im Hintergrund sensorisch verankert und damit dem individuellen Handeln den Rücken freihält, sind die kollektiven Quellen des Zusammen­lebens angefragt, die der Selbsttätigkeit des Einzelnen vorgeordnet und seinem Gutdünken entzogen sind. Der Rücken ist demnach nicht nur ein physiologisch-orthopädischer Sachverhalt, sondern Reservoir einer sensorischen Füllung, in welcher alle vergangenen und akut zu lebenden Dynamiken des unbe­fragten Selbstverständlichen eingehen und uns überhaupt erst –  wie bereits angedeutet – ermöglichen, zu etwas in der Lage zu sein.

     Wir machen hiermit darauf aufmerksam, dass über die sensorische Hintergrundsthematik kollektive Bewusstseinsgehalte ins individuelle Verhalten einschießen. Dieses hat sein eigenes Unbewusstes, das bei Verletzungen der unbefragten Kollektivnormen mit eigenen Affekten (Tabu, Verbannen, Verstoßen) reagiert. Ohne diese sensorische Bindung könnten Menschen keine stabile Sphäre mit anderen aufbauen, welche die sensorische Kontinuität des leiblichen Verhalten sichert. Wenn die im Hintergrund unbefragt schlummernden Selbstverständlichkeiten zerstört werden, müssen in das unmittelbare Zusammenleben immer wieder das selbstreflexive Bewusstsein einbrechen. Deshalb wirkt ein Mobbing so verheerend. Der Verunglimpfte oder Denunzierte steht wegen des festgewordenen Rückens wie neben sich oder wird depressiv, wenn es ihm nicht gelingt, all das in reflexiv Distanzen zu setzen, was im gewöhnlichen Zusammenleben bei guter Atmosphäre nie beredet, befragt und am besten im Ungefähren gelassen wird.

     Diese Diskrepanz von aufeinander wirkenden Atemkraftfeldern des sensorischen Vorder- und Hintergrund­raumes konnte jedoch bei Karla H. nicht direkt durch die Atembehandlung aufgehoben werden, weil diese nämlich von dem anderen genannten Strukturproblem überlagert wurde. Denn es war ja kein eigentliches Defizit an Atemvariabilität, weshalb der Innenraum zu wenig durch Atembewe­gung gefüllt und verdichtet war. Es  bestand ein Mangel an Anbindung der Atemfelder und Atem­kräfte an ihre Person, die deshalb auch zu wenig entwickelt waren und ihr Ich schwächten. Darauf wies die für die Atembewegung äußerst durchlässige und in außergewöhnlichem Maße Emp­findungs­diffe­renzen zugängliche Muskulatur von Karla H. hin, die aber auch als ein Resultat dentaler Belastungen anzusehen ist.

     Die Kreuzbeinschmerzen sind keineswegs vordergründig zu betrachten als eine Angelegenheit einzelner verspannter Muskeln, deren Defizite vielleicht physiotherapeutisch oder osteopathisch zu korrigieren gewesen wären. Vielmehr sahen wir sie durch eine persönliche Gesamtverfassung hervorgerufen, die an die Atembewegung gebunden war und die es zu trans­zendieren galt, indem deren energetischen und dynamischen Ungleichgewichte durch Atemerfahrungen aufgehoben wurden. Die Schmerzen konnten wegen dieses personenbezogenen Aspektes weder durch Gymnastik noch durch Druck und Dehnung auf einzelne Muskel-, Knochen und Leibpartien ausübende Massagetechniken gelindert werden. Diese physiotherapeutischen Maßnahmen zielen nicht auf die menschen­kundliche Dimension, welche mit der Rückbindung des Ichs an die Empfindung und der Sammlung der Person auf die Atembewe­gung als integraler Bestandteil des Erfahrbaren Atems nach der Lehre von Ilse Middendorf gegeben sind.

     Ich bot Karla H - deren Atemzustand sich bereits nach der Entfernung des belastenden Zahnmaterials erheblich verbessert hatte - allerst Vokalraum-Übungen an, denen sich in einfacher Weise gewidmet werden kann. Durch diese eigenständige Arbeitsweise in der middendorfschen Atemlehre sollte Karla H. nunmehr den Anschluss ihrer Person an ihre hohe Empfind­samkeit finden. Von diesen Übungen versprach ich mir, dass sie bei Karla H. jene Spannungserhöhung hervorrufen würden, die ihrem Ich in den leiblich gebundenen Wertigkeiten einen Rückhalt zur Verfügung stellen könnte. Es sollte mit den Vokalraumübungen also eine Ichstärkung erreicht wer­den. Diese sollte jedoch nicht auf einer Ergänzung des Ichs durch eine verstehende oder deutende Psychotherapie beruhen, sondern durch eine ver­besserte, im Unbewussten nach dem Resonanzprinzip wirkende Leiblichkeit organisiert werden.

     Die über die Empfindung vorgenommenen Wertungen des Leibes könnte man als Instinktprogram­me des Menschen bezeichnen, wären sie nicht sinnhafte und personengebundene Orientierungsweisen. Es sind nicht einmal Instinktreste, wenn uns schließlich eine innere Stimme präzise sagt, was wir tun dürfen und sollen. Dieser Appell der leiblichen Empfindungen an das Bewusstsein entspringt einer eigenen Organisiertheit der sensorischen Existenz des Menschen, der eine personale Mitte zwischen Innenraum und Außenraum finden muss. Da die Außenwelt in die eigene Binnenrealität hereingenommen ist, birgt die sensorische Existenz dehn unaufhebbaren Grund der seelischen Konflikthaftigkeit  in sich selbst.  Deshalb existiert im Konfliktfall kein Handlungsvollzug, welcher den leiblichen Appellen so ohne weiteres folgt. Sie können vom Ich ernstgenommen oder verdrängt werden. Der Mensch muss sich entscheiden.

     Diese unaufhebbare Verschränkung von Leib und Bewusstheit macht uns darauf aufmerksam, dass die leiblichen Wertungen also gerade keine angeborenen Mechanismen darstellen, wie es Konrad Lorenz und Paul Leyhausen mit ihrem überholten genetischem Determinismus wähnten. Denn die gegenüber dem Tier reicheren und viel­fältigeren Wertungen, die uns wie Instinkte vorkommen und denen der empfindungssichere Mensch im normalen Alltagsverhalten so selbstverständlich folgt, haben einen präkognitiven und präverbalen Sinn, dessen leibliche Ordnungsstruktur präzise genannt werden kann: Die persönliche Wertung des Leibes stellt eine biogra­fische Selektion aus dem Reservoir der men­schlichen Beweg­ungs- und Verhaltensweisen dar, deren Gliederung durch das chinesische Meridiansystem erfasst worden ist (vgl. hierzu vom Verfasser, Ruinöse Zahnwerkstoffe).

     Das bewusstseinstätige Ich erfährt mit seinen Gesinnungen, Moralideen und ethischen Prinzipien Widerhall, Widerspruch und Rückhalt in der biografisch geronnenen Leiblichkeit der Person. Damit wird das Ich zum eigentlichen Grenzgänger zwischen Sozialem und Kreatürlichem. Das Naturprodukt Mensch strahlt jedoch als Person durch die wertende Leiblichkeit aus und wird dadurch als Zivilisationsprodukt gesättigt. Die Atemarbeit nun zielt auf die personale Kohärenz ab, die über die sen­­sorische Verschränkung der Binnenrealität mit der äußeren Gegenwelt hergestellt wird. Das Ich soll also vom Leib her, von dessen sensorischen Verschränkung zwischen Innen- und Außenwelt angesprochen werden.

     Das Ich kann sich aufraffen und einstellen. Die sinnhaft informierenden Resonanzbeziehung zwischen Innen und Außen bleibt ihm jedoch unverfügbar. Von dieser weiß weder das Ich etwas noch ist es an dieser beteiligt. Das Ich kann jedoch transzendiert werden, falls es gelingt, in der Tiefe der Atemleiblichkeit eine Wandlung der Person einzuleiten. Über das Einleben einer höheren Kohärenz der sensorischen Leibverschränkung in den verschiedenen Lebenssphären sollte das Ich von Karla H. gestärkt und der Zug der Selbstliebe, dem sie ihn ihrem meditatives Bewegen frönte, abgebaut werden. 

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Produktive und kreative Spannungsintegration
Bei Karla H. sollte die Frage der Sphäre das schweigende Singen von Vokalen anleiten. Dieses sollte ihr helfen, zunächst den Übergang von einer bloß flächigen zu einer räumlichen Empfindungsausdehnung zu erleben, um sich des weiteren der qualitativen Unter­scheidungen ihres atembewegten Innenraumes gewiss werden zu können. In der Unfähigkeit, mit dem Ich die Eigenraumfüllung durch differente Atemstrukturen in die Wahrnehmung zu nehmen, existiert übrigens ein gemeinsames Merkmal der narzisstischen und der depressiven Seele. Die erstere ist bei der transsensischen Ausdehnung in den Raum durch eine zu starre Ausrichtung des Ichs ins Außen behindert und letztere verliert durch einen Rückzug des Ichs aus ihm jede empfindende Unterscheidungsfähigkeit, weshalb alles grau und leer erscheint.

      Die Vokalraumarbeit sollte darüber hinaus dazu beitragen, bei Karla H. die sensorische Verschränkung der differenzierten Schichtungen des Innenraumes mit der Vielzahl der Außenräume zu verbessern, um ihre Ichkräfte zu stärken. Sie sollte sich in ihrem Auftreten als selbstgewisse Person erleben lernen, die es nicht mehr gezwungen sah, vorgegebenen Idealen, wie sie zu sein hatte, nachzueifern. Was als erlebte Empfindungsdifferenzierung gegen den Narzissmus heilsam sein kann, weil nämlich das Ich auf die personale Wertigkeiten des Leibes aufmerksam wird, wäre jedoch bei Depressionen kon­tra­indiziert. Der an letzterem Erkrankten leidet nämlich nicht an einer zu geringen, sondern an einer überhöhten Sensibilität.

     Vor allem aber ermangelt es dem Depressiven an vitalen Impulsen aus dem Becken. Auch diesem fehlt Kreuzbeinkraft, welche die atemdynamischen Beziehungen zum Außenraum unterhält. Beim Depressiven ist wegen des sensorischen Rückzugs aus dem Außenraum die Ichkraft zerfallen. Die sensorische Leibgrenze, die bei Kontakt über die Körperkontur hinausgeschoben ist, ist bei Depressionen hinter diese hereingenommen. Eine vornehmlich auf die Empfindung sich stützende Vokalraumarbeit würde diesen Spannungszerfall verstärken und in einer hierdurch wiederum bedingten Sammlungsunfähigkeit lediglich den Personenverlust manifestieren.

     Bei Karla H. war mit Hilfe der Vokalraumarbeit die Verschiebbarkeit der sensorischen Leibgrenze zu flexibilisieren. Die selektierende Kontaktfähigkeit an der Leibgrenze wächst, wenn sich die Innenräume ausdifferenzieren und empfindungsstabil das Ich in seiner Aktivität unterstützen. Je nachdem, wie die sensorische Leibgrenze gegenüber der Körperkontur nach innen und außen verschiebbar ist, werden die Maße für die elastische Abfangfähigkeit von Außeninformationen, die muskeltonische Abwehrhärte gegen die Außenwelt oder den dystonen Rückzug in sich selbst gesetzt. Der narzisstischen Empfindungsschwäche entspricht eine zu eng geschnürte Leibgrenze, während sie – vergleichen wir weiter - beim Depressiven hinter der physikalische Körpergrenze aufgebaut ist und beim schizophrenen Erleben außerdem noch durchlöchert ist. Wenn die leibliche Grenze wie im letzteren Fall nicht mal mehr befestigt ist, wird die Empfindung zum Störfeld. Die Informationen aus dem Äußeren vermögen ungehindert in den Eigenraum einbrechen. Ungefiltert  durch die sensorische Leibgrenze bauen sie sich zum wahnhaften Geflüster auf.

     Die middendorfsche Arbeit mit dem Laut, zu der ich Karla H. anleitete, sollte also mitnichten dem vordergründigen Ziel einer Stimmbildung dienen. Das Üben am Atem sollte erweiterten Verhaltensmög- lichkeiten die Tür öffnen, die durch das Verlassen oder das Einleben in den bestehenden sowie durch den Kontakt in neu entdeckten Gesellungs­einheiten den Gesamttonus umstellen. Es galt also die Atembewegung im Interesse zu mobilisieren und auszudifferenzieren, damit Karla H. ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den äußeren Vorgaben und den inneren Atemkräften aufzubauen vermochte

     Dieser Weg ist krisenhaft und zeigt uns endgültig, wie wenig der Atem als Mechanismus verfügbar ist und weshalb technisches Üben an Grenzen gerät, welche durch die Personengebundenheit und Sinn­haftigkeit des Leibes gesetzt sind. An der Atembewegung als Medium des Sensorischen zeigt sich unsere Lebendigkeit, die Inneres unauf­heb­bar ans Äußere bindet. Deshalb wird das am Atem Geübte keineswegs auto­ma­tisch in die Kreisläufe des „inneren Milieus“ (Claude Bernard) übernommen. Es schafft lediglich die Möglichkeit eines differenzierteren Verhalten. Atemerfah­rungen entfalten auf einem vom Ich unbeherrsch­baren Feld ihre Wirksamkeit, indem sie das dem Ich unbekannte Innere sprechen lassen. Innere Ent­wick­lungsschranken können beiseite geräumt und Wege der Selbstentfaltung gebahnt werden.

     Beim Üben mit Atemlauten tritt keine willkürlich eingesetzte Bewegung zwischen das Empfinden und Sammeln. Dies ist noch bei der sensitiven Bewegung der Fall, die viele Körperarbeiten, die Feldenkrais- Bewegung, die Konzentrative Bewegungstherapie oder das Tai Chi einsetzen. Die Beimischungen des Ichs sind deshalb bei der middendorfschen Übungsweise mit Vokalen gegenüber der Arbeit mit der Bewegung besonders herabgesetzt. Die middendorfsche Vokalraumarbeit ist Selbstkontakt und unterscheidet sich darin auch vom Kontakt mit einer anderen Person wie in der Atembehandlung, die zunächst mit vom Ich aus- geführten Aktionen einsetzt. Dabei entstehen auch Antworten des Ichs auf die Berührung des Atemlehrers in der Atembehandlung, die sich  vor die Erfahrung des eigenen Atemrhythmus stellen. Dagegen setzt die Vokalraumarbeit einfach und direkt im Sinnenreich an, um den reinen Atemlaut durch ein „stummes Singen“ als pure Erlebensqualität zu pflegen.

     Die Arbeit mit dem Vokal schließt uns den Atemleib in seinen innerlich gegliederten Räumen auf. Das Üben mit den stimm­­haften Konsonanten setzt eine antreibende oder zentrierende Aus­atemkraft frei, während der Einsatz von stimm­losen Konsonanten Einatem- und Ausatemimpulse dynamisiert. Indem sich durch diese Übungsweise die Muskulatur mit Atembewegung füllt, deren qualitative Schichtung dem Erleben im In-der-Welt-sein entspricht., entsteht eine die Vitalität antreibende, die Empathie unterhaltende und die Selbstverwirklichung führende Atemkraft, der es Karla H. ermangelte, wo­durch ihr Tun von ihrem narzisstisch eingefärbten Ich getrieben, nicht jedoch von der Person mit ihrer leiblichen Wertigkeit getragen wurde.

     Mit dem Einatmen weiten wir uns nicht nur, sondern lehnen uns zugleich in den Raum hinaus. Es ist dieses transsensische Ausfalten über die eigene Körperkontur hinaus, durch die wir eine Sphäre des Verbindenden mit dem anderen bilden. Diese sensorische Ausdehnung wird mit der Einatemweitung in ihr Maß gesetzt, das durch ein Hinausschieben der Leibgrenze bestimmt wird, was den Kontakt mit dem anderen herzustellen erlaubt. Die andere Seite der Ausdehnung ist die Positionierung im Raum, die durch den Einfaltungsakt in der Ausatembewegung gesichert wird. Dieses Zusammenspiel ist es, das der „exzentrischen Positionalität“ (Helmut Plessner) nicht nur unterlegt ist, sondern diese auch realisiert.

     Die volle Atembewegung unterhält also einerseits das einen eigenen sensorischen Horizont bildende Hinausleben über sich selbst, wodurch die Anregungen der vielschichtigen Außenräume in sich aufgenommen werden können. Eine Vollatembewegung gewährleistet andererseits, dass im empa­thischen Informationsvorgang des sensorischen Leibes gleichzeitig die Eigenposition als persönlicher Standpunkt, und das heißt Eigensinn, zentriert werden kann.

     Mit meiner Atemschülerin wollte ich durch diese Übungsweise mit den Vokalen außerdem von der durch sie praktizierten meditativen Bewegung weg, die der sensitiven Bewegungsarbeit im Erfahrbaren Atem in manchem ähnelt, soweit unwillkürliche Innenimpulse zum Tragen kommen und als Ausdruck der Seele sich in der Bewegung darbieten. Klara H. sollte durch die Vokalraumarbeit eine leibliche Unterschei­dungs­­fähigkeit zuwachsen, indem sie jene Vokalraum-Spannkraft in der Einatembewe­gung aufbaute, welche ein ihren Lebenserfahrungen, erworbenen Fähigkeiten und ausgebildeten Fertigkeiten gemäßes Hinausleben über sich selbst erlaubte. Wegen der zu geringen Abwehrkraft und der zu hohen Durchlässigkeit der Atemmuskulatur war ihr das sensorische Über-sich-hinaus-leben mittels der sie an der Sphärenbildung mit ihrer Person teilhat, nur im beschränkten Maße vergönnt.

     Bei Karla H. war alles andere als eine Kör­per­sensibilität zu gewinnen, die gegenüber einer eventuellen Abgestumpftheit dazu hätte dienen können, in eine seelische Erlebnisfähigkeit zu gelangen. Daran fehlte es Karla H. gerade nicht. Sie verfügte stattdessen über eine zu durchlässige Muskel­struk­tur, die sich im Ungleichgewicht zur Atemkraft befand. Dieses entgleiste bei ihr in den funktionalen Schmerz, weil es ihre elastische Abwehrfähigkeit gegenüber fremden Einflüssen unterminierte. Dem war allererst durch die Vokalraumarbeit entgegenzuarbeiten.

     Wegen der hoher Sensibilität waren bei der Atembehandlung tunlichst dehnende Griffe zu unterlassen. Auch  dehnende Bewegungen hätten die hohe Durchlässigkeit von Karla H.s Muskelstruktur verstärkt. Eine derartige in vielen sensitiven Bewe­gungs­arbeiten (Tai Ch’i, Felden­krais-Bewegung, Konzentrative Bewegungstherapie) gepflegte, die Muskulatur dehnende Vorgehensweise wäre ebenfalls für Karla H. kontraproduktiv gewesen. Diese Lösungsweise würde die Nabelblockade nur verfestigen, weil diese gewebliche Verhärtung auch eine Reaktion auf eine gesamtmuskulär zu hohen Durchlässigkeit und dementsprechenden Sensibilität war.

     Wegen der hohen Sensibilität hätte zunächst selbst das kurze Verweilen der Hände an einer Stelle während der Atembe­handlung Karla H. überachtsam werden lassen, wodurch ihre für die Weitege­winnung vertrauensvolle Hingabe an das Atemgeschehen abgebremst worden wäre. Unter den Händen reagierte sie nur auf leichten Druck in den Einatemimpuls mit eigenen, von innen kommenden Antworten. Diese galt es mit den Händen entgegenzunehmen, um sogleich zu einem nächsten Haltepunkt der Ansprache weiterzuwandern. Erst nach einer längeren Mobilisierung ihrer Atembewegung konnten endlich die Hände liegen bleiben, um Karla H. die Möglichkeit zu geben, das durch den Kontakt Angeregte in sich aufzunehmen.

     In der Atembehandlung musste durch ein kurzbemessenes Drücken die Atemkraft mobilisiert werden. Das manuelle Instrument des lösenden Auf­dehnens der Muskulatur, das sich in den Atemrhythmus ohne geringste Hast einschmiegt, durfte ebenso wenig genutzt werden. Im Gegensatz dazu könnte in anderen Fällen wiederum die Atemkraft gesteigert werden, wenn die Durchlässigkeit mittels spannungslösender Dehnungen verbessert oder nunmehr allerdings bei vorliegender Emp­findungs­schwäche ebenfalls die Person durch eine verweilende Anwesenheit an die Atembewegung angebunden würde, wodurch deren leibliches Werten dem Ich einen Rückhalt oder Widerhall spendieren könnte.

     Über ein von außen gesehen nur flüchtig erscheinendes Drücken also, das jedoch Karla H. als Person meinte und diese intensiv ansprach, gelang es, die Ansprüche und Absichten des Ichs zurückzustellen und Person in eine hingebende Anwesenheit innerhalb ihres Ateminnenraumes hineinzulocken, wodurch der Atem weiterwachsen konnte. Nachdem sich ihr Atemraum von innen her zu füllen begonnen hatte, konnte Karla H. unter meinen Händen in der Tiefe ihrer unwillkürlichen Bewegtheit über mehrere Atemzüge hindurch präsent bleiben, was ihr zu Beginn unserer Zusammenarbeit noch nicht gelingen mochte. Denn das Auseinanderfallen von Durchlässigkeit und Atemkraft baut nicht nur eine gelassene Hingabe ab, sondern provoziert Überachtsamkeit .

     In der Middendorf-Arbeit wird alles andere als ein naives Sich-selbst-Spüren gepflegt. Man weiß wegen des methodisch konsolidier­ten Umgangs mit der subtilen Bewegungsweise des Atems und durch den in langjährigen Erprobungen gereiften Einsatz von Übungsmög­lich­kei­ten bestens, dass ohne die Entwicklung von Atemquali­täten eine Selbstzuwendung kontraproduktiv sein kann. Ein unsachgemäßes Üben, in welchem man ohne versierte Anleitung schneller als man denkt landen kann, kann die Atembewegung erstarren lassen, eine Selbstbeob­ach­tung initiieren und eine leidige Hypersensibilisierung gepaart mit sozialer Weltflüchtigkeit auch erst hervorrufen.

     Denn der Atemschüler soll sich im Alltag mit seinen Sinnen der Welt zuwenden und mitnichten deren Ausrichtung gleichzeitig nach außen und nach innen aufspalten, weil dies dessen Handlungsfähigkeit beeinträchtigen würde. Der dem Reiz des Neuen unterliegende Atemschüler wird aus­drück­lich davor gewarnt, bei jeder Gelegenheit in sich hineinzuspüren. Denn dadurch würde seine durchs Üben gewonnene Empfindsamkeit gleich wieder in eine spannungslose Hypersensibilität fehlgeleitet. Die Hypersensibilität ist nur das Derivat einer differenzierungsfähigen Empfindlungsfähigkeit. In ihn schlägt vor allem das Beeinträchtigende aus der Außenwelt durch, weil die Regulation durch eine tonische Abwehrkraft fehlt, welche die Funktion hat, innerhalb eines personal gesetzten Rahmens die eigene Empfindsamkeit zu schützen. Vor allem ist bei einer Hypersensibilität die Eutonie der Gesamtmuskulatur verloren, welche die lösende Gammasteuerung der Reflexe in ihr Recht einsetzt, um der den gesamten Leib erfassenden Vollatembewegung eine variantenreiche Modulation in Atemgestalten zu ermöglichen.

     Indem der Umgang mit der eigenen Atembewegung die Empfindung differenziert, zielt er auf eine produktive und schöpferische Haltung gegenüber der Welt. Diese lebt von einem durch die gestalthaften Formen der Atembewegung geeinigten Kraftfeld, welches als Immunsystem fungiert, was die Binnendifferenzierung schützt. Der Mensch wächst, indem er sich durch sein Verhalten differenziert in sensorische Räume hinausfaltet, die er gegensinnig zugleich in sich einzufalten hat. Über den wechselnden Aufbau von Atem findet eine Sphärenkonstitution in den Situationen des Lebens statt. Ohne diese zerfällt die Handlungsfähigkeit, weil das Ich in seinem leiblichen Rückhalt irritiert ist. Ebenso wenig gibt es im existentiellen Dasein ohne Sphärenkonstitution eine Integration der gegensätzlichen Kräfte, durch die das Schöpferische freigesetzt wird, bei dem das unbekannte Innere die Integration des Fremden in das Eigene aufruft.

     Die im Alltag wechselhaft aufgebauten Atemgestalten integrieren beim produktiven und kreativen Schaffen gegensätzliche Spannungen. Die aufzubauenden Atemgestalten formen diese, wodurch sie die Einheit der Sinne gewährleisten. Dazu gehört auch, dass in dieser Einheit auch die sensorischen Rückstöße der verschiedenen Einzelelemente des motorischen Handelns in das Innere zu einem Gesamt integriert sind. Innerhalb diesem wird durch die biografisch eingelebten Spannungen dem jeweiligen Verhalten eine spezifische Qualität der Wachheit, Aufmerksamkeit und Erinnerung zugewiesen. Das pure Erleben des eigenen Atemflusses vermag nun diese Anweisungen umzuformulieren. Die im Leib geronnenen Wertigkeiten können umgegossen, erweitert und in persönlicher Sinnhaftigkeit ausgerichtet werden.

     Das geglückte Werk, eine gelungene Planung oder eine weiterführende Beratung, eine formvollendete Komposition oder eine beseelende Darstellung eines Kunstwerks können deshalb weder durch ein bloßes Nachgehen spontan sich meldender Bedürfnisse noch ein bloß intuitives Zusammenfügen disparater Motive sein. Auch letzteren kann nicht allein durchs Empfinden auf die Sprünge geholfen werden, weil sie sich in einseitig durchlebten und auch durchlittenen Spannungen niederschlagen, deren komplexe Zusammenkunft gelingen kann, wenn sie einer deutlichen Vorsatzbildung folgen. Hierzu bedarf es des Aufbaus anthropologisch bedeutsamer Atemgestalten, die eine gelungene Vorsatzbildung in ihrem Abrufen abstützen und den unmittelbaren Durchschlag von informatorischen Außeneinflüssen auf die eigene Leiblichkeit abwehren.

     Das wechselnde Atemspiel jedoch bleibt immerzu dem Ich unverfügbar, weshalb überhaupt der Bewusstseinsstrom durch die Bewegung des Atems unterhalten werden kann. Das eigentlich Lebendige Atemgestalt darf uns sogar im Alltag gar nicht empfindungsbewusst werden. Durch eine derartige Innenwendung würde deren Wirkkraft für das gelungene Handeln zerstört. Zwischen der pädagogisch-therapeutischen Praxis und dem All­tagsleben liegt eine beträchtliche Kluft, die nicht zu überspringen und nur durch einen sorgfältigen Brückenbau zu überwinden ist.
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Selbstversenkung
Was die Mo­der­ne mit ihrem cartesianischen Mo­dell des Ego ins Extrem gesteigert hat, nämlich die Abstandnahme des Menschen von sich selbst, welche die Grundlage seiner tätigen Welt­orien­­tierung ist, darf die Atemarbeit ihrem Anspruch nach keineswegs durch eine in der Vitalität lahmende esoterische Lebenseinstellung zurücknehmen. Diese dementiert einseitig die moderne  Rationalität des westlichen Institutionenbaus. Diese brachte einerseits die individuelle Selbsttätigkeit hervor und verhalf ihr zur geschichtlichen Spannung.. Andererseits konnte die Wissenschaft als Magd der Theologie entstehen.      Der Weg nach innen kann Weisheit verbürgen. Er bringt jedoch kein empirisches Wissen hervor. Die die Esoterik will alles, was in der Welt vor sich geht, nur noch bei sich selbst spüren, um ausschließlich von der empfundenen Schwingung her, vielleicht ständig mit einem siderischen Pendel oder ansonsten mit einem Biotensor in der Hand oder auch durch irgend einen anderen Resonanzabgleich entscheiden, ohne noch ein rational gesichertes Kriterium für das Urteilen zu haben. Zweifellos kann Zutreffendes, Zusammenpassendes und Entsprechendes durch Resonanzabgleiche ermittelt werden, aber Stimmigkeitskritieren können nur innerhalb des Rahmensvon Wertordnungen handlungsleitend werden, die äußerlich, nämlich kulturell durch geschichtlich entwickelte Institutionen gesetzt sind.

     Indem sich die Esoterik der animistischen Information vergewissert, begibt sie sich in die Gefahr, diese zur eigentlichen Rationalität aufzubauen. Wird dieser unterlegen, reist der biografisch aufgebaute Selektionsschutz, den die Bindung des Verhaltens an Sphären bietet. Es entsteht ein ständiges, sich selbst beob­ach­tende und sich selbst spürende Unter­spanntsein, das in einen Zustand der flüchtigen Weltausblendung eskaliert. Mit einem Befinden im Raum, bei dem das exzentrische Positioniert-sein als ein Über-sich-hinaus-sein zurückgenommen ist, korrelieren Atemstörungen.

     Die Absichten der Atemarbeit qualifizieren sich durch ein Unterscheiden, für das Atemqualitäten der Bezugspunkt sind. Karla H.s Ungleichgewicht zwischen mangelnder Atemkraft und erhöhter Durchlässigkeit dürfte sich durch den bereits angesprochenen alter­nativen Medikamentenkonsum und feinem Sen­si­bili­tätserhöher verstärkt haben. Man musste bei ihr befürchten, dass sie durch ihre nach Gutdünken bemessene Einnahme von homöopathischen Tiefpotenzen geradezu die Symptombilder hervorgerufen hatte, die sie bekämpfen wollte. Die Erfahrung im Blick auf die Atembewegung bei der Wirkung von homöopathischen Medikamenten, lässt dies vermuten: Es gibt auch die Atembewegung schwächende Homöopathika.

     Man kann die Atemwirkung einfach testen, indem man sie dem Atemschüler während der Atembehandlung in die Hand gibt. Aber auch die geballt Einnahme von Nosoden kann die Atembewegung schwächen, wenn nicht die Gesamtregulation im Blick gehalten und die Ausgleichsmöglichkeiten durchgemessen werden, wie es die Elektroakupunktur methodisch erprobt hat. Auch die Heilhindernisse sind beim Einsatz von homöopathischen Medikamenten zu beachten. Sie können nicht nur deren Wirkung verrauschen lassen, sondern diese gar schädlich werden lassen. Auch hier hatte die Elektroakupunktur seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen, die Einschränkung der Resonanzfähigkeit des Organismus durch Heilhindernisse mit ihrer elektrophysiologischen Messkunst zu ermitteln.

     Vor allem gilt es beim Streit um die Homöopathie die Steine auf die Waagschale der Wirksamkeit zu legen. Denn selbstredend ist auch die positive Wirkung des homöopathischen Medikaments an der Atembewegung abzulesen. Ist die Atembewegung genügend resonanzfähig, so dürfte auch das Medikament erstaunlich wirkungsvoll durchschlagen. Dabei gilt folgende Ordnung: Die 50.000-fach verdünnten LM- oder Q-Potenzen wirken auf biografisch erworbene Zwerchfell rigiditäten bzw. eklatante tonische Disparitäten, die sich als Zwerchfell-Fehlstellungen manifestieren. Die 10-fach verdünnten D-Potenzen wirken auf die Atembewegung formbildend. Sie unterstützen in der Atemarbeit den Aufbau von Atemgestalten. Und die 100-fach Verdünnungen, die C-Potenzen, wirken bei aktuellen Konflikten dämpfend oder auch auflösend. Aber all diese Wirkungen verpuffen meist bei chronifizierten Krankheiten, erzeugen oftmals nur Unruhe oder wirken sogar gar kontraproduktiv, wenn der Atemleib durch biologisch inkompatible Zahnwerkstoffe oder auch überhaupt in seiner Gesamtverfassung nicht mehr genügend resonanzfähig ist

     Außerdem dürfte bei Karla H. ihre medi­ta­tive Art des täglichen Tanzen kontraproduktiv gewesen sein. Durch diese kaum ins Kraftvolle gehende Darstellungsweise des ursprünglichst Inneren, die von einem beliebigen Hineintauchen in die durchs Tanzen aufgebauten Empfindungsfelder lebt, wurde vermutlich ihre Muskulatur weiter in eine extreme Durchlässigkeit hineinmanövriert. Im Zusammenspiel mit dem alternativen Medikamentenkonsum und mit der vorhandenen dentalen Belastung entwickelte sich der für sie so unerklärliche Schmerz. Hatte sie doch so gesund gelebt und alles getan, was ihr als alternative Gesundheitsprävention so anempfohlen worden war.

     Das unspezifizierte Empfinden, das Karla H. ausgiebig beim meditativen Tanzen pflegte, kann bei einem wenig robusten Menschen geradezu anthropologische Atemquali­täten besonders dann abbauen, wenn er noch durch kunststoffhaltige Zahnwerkstoffe belastet ist. Beides steigert eine abwehrlose Unterspannung und führt selbst im Tätigsein oftmals zu einer Atemweise, die der Ruhe angemessen ist. Die dynamische Modulation von Atemgestalten als Daseinweise setzt wenn überhaupt verlangsamt ein und ist meist zugunsten eines gleichförmigen Atemrhythmus ersetzt, welcher nur noch den Bedürfnissen des Luftaustausches genügt.(Auf eine nähere Charakterisierung des Modus der Ruheatmung ist noch ausführlicher zurückzukommen.)

     Das Sich-selbst-spüren beim Tanzen löst zunächst das normale Wechselspiel zwischen Innen und Außen auf, was in therapeutischer Absicht sinnvoll sein kann. Es wird oftmals gerade von jenen so geliebt, bei denen bereits eine vereinseitigte Innenwahrnehmung vorliegt, die keine Spannung mehr zur Außenwelt zu halten vermag. In diesem Fall wird der Trans­sensus in den Raum noch weiter zurückgenommen und die Fähigkeit geschwächt, eine dem jeweiligen Tun und Lassen gerechte Spannung des muskulären Gewebes aufzubauen. Deren aber bedarf es, damit sich eine flexible Abgren­zungs­fähigkeit, der es Karla H. ermangelte, entwickeln kann.

     Wenn sich bei hoher Empfindsamkeit die Fähigkeit zur muskulären Ab­wehr vermindert, entsteht eine eigenartige Starre. Es erhöht sich einerseits zum Schutz vor einer Überreizung automatisch die Spannung an den Gelenken – und auch an den sehnigen Muskelenden, die am Kreuzbein ansetzen, weshalb bei hoher Beanspruchung dort Schmer­zen entstehen können. Diese die Erscheinung der Person formierende Gelenkfesthaltung korrespondiert andererseits immer mit einem ungenügend sich füllenden mittleren Atemraum, der dann nach auch wie bei Karla H. wegen der Nabelfeldblockade nach vorne überdehnt sein kann. Der mittlere Atemraum liegt zwischen Brustbeinspitze und Bauchnabel. Wir kennen dieser Zuordnung entsprechend noch einen oberen und unteren Raum. Zum ersteren gehören der Schulter­gür­tel, die Arme und der Kopf, zum letzteren das Becken und die Beine.

     Doch die eigentliche Belastung, aus der die beiden energetische Phänomene im Nabelfeld und dem mittleren Atemraum hervorgehen liegt tiefer und verweist auf einen Elternkonflikt. Es ist nämlich die Atemgestalt Wurzelkraft verletzt, die ihre Grundthematik in jener Atemräumlichkeit und Atemzentrierung hat, die zwischen den Hüftgelenken und Leisten, unterhalb des Atemimpulspunktes und oberhalb des Beckenbodenzentrums liegt. Wir haben bereits oben die Gravitationsbezüge der Atembewegung ausführlich besprochen. Hier können die Bezüge bildhaft vorgestellt werden. Wir wurzeln unterhalb dem körperlichen Schwerpunkt, der bei einer Vollatembewegung mit dem Atemimpulspunkt zusammenfällt, und verankern uns im Beckenbodenzentrum. Gelingt etwa eine Atemarbeit zum Aufbau der Atemgestalt Wurzelkraft, bei welcher die Tragfähigkeit dieser muskulär-sehnigen Übergänge schrittweise von der Ebene der Fußgelenk bis hoch zu jener der Schultergelenke entfaltet wird, so entsteht eine kompakte im Wurzelraum zentrierte und im mittleren Atemraum besonders gefüllte Eigenräumlichkeit, welche die sensorische Differenz zum Außen geradezu aufdrängt.

     Durch die Weise des Inne-seins beim meditativen Tanzen steigert sich zweifelsohne die Sensitivität. Aus der Atemarbeit wissen wir noch aus einem anderen Grund, dass das auch hier Unwegsamkeiten lauern und diese in eine Sackgasse führen kann. Motion und Sensorik können sich bei jedem sanft-beschaulichen Spüren und Bewegen nämlich auch voneinander abkoppeln. Die Bewegung kann perfektioniert werden und mechanisch aussehen, wenn sie nicht vermittels der Atembewegung in den personalen Ausgleich zur Emp­findung gesetzt wird. Gerade die middendorfsche Lehre des Erfahrbaren Atems mahnt mittels ihres Sammlungsaspektes gegen alle Beliebigkeit die Per­sonen­bezogenenheit in der Sinnlichkeit die Sinnhaftigkeit an und gibt dem qualifizierten Atemlehrer Mittel zum Ausgleich in die Hand. Die Innenschichten sollen nicht nur im Interesse einer größeren Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit unterscheidungsfähig werden, sondern auch entsprechend dieser Differenziertheit der Inneninstanz die Abwehr­fähigkeit zum Schutz des Eigenen mitwachsen lassen.

     So können wir noch innerhalb dieses Problemkreises noch einen weiteren Grund identifizieren, weshalb sich bei Karla H. das Ungleichgewicht zwischen hoher muskulärer Durchlässigkeit für die Atembewegung und mangelnder Abwehrkraft durch die Atembewe­gung verschärfte. Dieser dürfte in ihrer jahrelangen Yogapraktik gelegen haben. Auch sie war ein Versuch des Ausgleichs ihres persönlichen Dilemmas, das ihre weiblichen Schönheit hinter einer neurotischen Traumverlorenheit verstecken ließ, was sie weiter in ihrem Narzissmus bestärkte.

     Der Yoga bezweckt, den Körper für geistige Selbstversenkungsvorgänge durchlässiger und auch für die normale Wider­stän­digkeit im Leben nahezu überempfind­lich zu machen. Bezogen auf den Aspekt einer maßsetzenden Ausdifferenzierung der Empfindung gibt es zwar auch hier eine Gemeinsamkeit mit der middendorfschen Atemarbeit. Diese endet aber endgültig dort, wo der Yoga darauf angelegt ist, die Per­son als präkognitiv und präverbal wertende­ Leiblichkeit im Interesse zu neutralisieren, die Negation von allem Bestimmten, das absolute Nichts nämlich, als Ausgang der Spiritualität zu setzen.

     Der Lotussitz verlagert den körperlichen Schwerpunkt in den Beckenboden und minimiert dadurch radikal die Schwerkraftreize, an die alle leibliche Wertung gebunden ist. Dagegen arbeitet der Erfahrbare Atem zunächst im Sitzen und später im Stehen, um gerade eine persönliche Mitte zwischen Innenraum und Außenraum zu finden. Die Atemmitte, die wie alle Atemgestalten den gesamten Leib in der Innen-Außenbeziehung  betrifft, ordnet sich zwischen Bauchnabel und Brustbeinspitze im mittleren Atemraum. Da die Mittenintegration auch besonders fliehkraftbezogen ist, kann man auch im Unterschied zu dem körperlichen Schwerpunkt im Becken (Atemimpulspunkt) von einem persönlichen Schwerpunkt in der Aufrichtung sprechen, bei dem die sensorische Horizontalität integriert ist.

     Wegen der Komplexivität des Verhältnisses von Bewusstsein und Erleben einerseits und Atmen-Empfinden-Sammeln andererseits kann zunächst gar nicht in der einzelnen Übungsweise die eigentliche Differenz zwischen Erfahrbarer Atem und Yoga festgemacht werden. Überhaupt gibt es in den jeweiligen Anfangsübungsensembles der ver­schiedenen Methoden der Körper- und Atemarbeit unübersehbar Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Alle streben irgendwie muskuläre Lösungen an und setzen hierfür passive Dehnungen und deren Abart, den Druck, ein, was als zwangsläufiger Reflexmodus zudem Atem hervorruft. Auch diese Aktivität der nervalen Peripherie legt nahe, die Atembewegung als Integral der Reflextätigkeit und Medium des sensorischen Verhaltens im Raum zu begreifen.

     Sensitive Bewegungsarbeiten mit den ihnen inhärenten passiven Dehnungen, mittels derer zu üben jedoch – wie bereits erwähnt – es für Karla H. kontraproduktiv gewesen wäre, zielen darauf ab, die Muskel­sinne, die Reflextätigkeiten bzw. die Spannungsorganisation der Muskulatur auszudifferenzieren. Es gilt einen Kontakt des Ichs zu jenen Empfindungen herzustellen, die durch Bewegungen als Haltungen des „In-der-Welt-seins“ entstehen. Deshalb ist bei jeder einzelnen Übungsweise ein Spürfeld zum Außenraum, zum Boden oder zu einem Partner aufzubauen, was in seiner transsensischen Qualität des Über-sich-hinaus-seins nichts anderes als ein sensorisches Einlassen in die Schwer- und Fliehkraft ist.

     Atemerfahrungen im middendorfschen Sinne können nur bei personaler Wachheit und Aufmerksamkeit geschehen. Da sie dem Aufbau einer dem jeweiligen Tun und Lassen gerechten Spannung (Eutonie) dienen sollen, arbeitet - wie bereits erwähnt - die middendorfsche Bewegungs- und Vokalraumarbeit im Sitzen oder Stehen. Im bloßen Liegen, ohne den personalen Kontakt mit einer anderen Person wie etwa beim Behandeln, würde zwar die Atembewegung ruhiger werden und für manchen überhaupt erst spürbar sein. Sie würde aber wegen des Liegens keine Formdifferenzierung in dem Dasein entsprechenden Atemgestalten annehmen können.

     Die sensitive Bewegungsarbeit im Erfahrbaren Atem verbessert das Einge­schmiegt-sein der Reflextätigkeit in die Gravitation. Dies erhöht die muskuläre Lösungsfähigkeit, die Raum für den durch­flie­ßenden Atem schafft. Dessen durch einen Innenimpuls ausgelöste Bewegung ist es letzten Endes, welche Überspannungen der Muskulatur löst und Unterspannungen herabsetzt. Die Atembewegung differenziert subtiler als jede andere Motion, auch die sensitive oder gymnastisch-rhythmische Bewegung, die Empfindungen. Empfindungen können um so vielschichtiger erlebt werden, je gefüllter und verdichteter der Atemraum bewegt wird. Dadurch vermehren sich die vitalen Bewe­gungs- und persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten, in denen ein Mensch sein Inneres offen oder verdeckt darstellt, was wir im Außen antreffen können.

     Alle westlichen Atemmethoden wollen den Organismus in der Gravitation als der materiellen Grundlage der Empfindungen und Span­nungen verankern, durch welche die Person in ihren Ichkräften mit der Welt verflochten ist. Der Erfahrbare Atem zielt in seiner lebenspraktischen Perspektive darauf ab, eine gute Spannung aufzubauen, die dem alltäglichen Tun und Lassen zugehörig ist. In Eutonie soll das leibliche Verhalten verflüssigt werden, um sich in diesem Grund der persönlichen Werte­welt zu vergewissern sowie sich der inneren Ak­tions- und Reaktionsweisen bewusst zu werden. Das Ich soll über ein gestärktes Empfindungsbewusstsein wieder auf den Leib hören, wenn dieser gegenüber aufgesetzten Willensabsichten seine eigenen Bedürfnisse anmeldet.

     Das Übungssystem des Yoga organisiert soweit eine elastische, zur Verbindung mit dem anderen fähige Abfangkraft gegenüber vielschichtigen Außeneinflüssen, soweit er gegen eine wenig durchlässige und empfin­dungsdifferen­zierte muskuläre Kompaktheit aktive Dehnübungen (Asanas) einsetzt. Der wohltuende Charakter des Stretchings ist allgemein anerkannt.

     Wir deuteten bereits an: Sobald aber die Praktik des Yoga in die Selbstversenkung im Lotussitz übergeht, beginnen die eigentlichen Unterscheidungen. Dann werden nicht mehr wie bei westlichen Atemarbeiten über die Motorik die Ich-Kräfte gestärkt und in der personalen Wertigkeit des gut gespannten Leibes verankert. Alle auf Selbstver­senkung abzielenden Meditationen wollen zwar als Voraussetzung die Muskulatur durchlässiger haben, wofür auch oftmals technische Atemübungen eingesetzt werden. Aber die Motorik bleibt stillgestellt, um die Empfindungen bis auf kleinste Inseln absterben zu lassen, wodurch das Befinden als sensorischer Raumbezug aufgelöst wird.

     Anfangs ist der Atem aufgrund der angestrengten Angespanntheit bei dem niedrigen Sitzen mit übereinander ge­schla­genen Beinen groß. Diesen anfänglichen Belastungszustand gilt es durchzuhalten, bis er endlich in eine Gesamtentspannung umschlägt. Der Atem wird bei dem herabgesetzten Tonus zwar kleiner, aber trotzdem als Ruheatmung lebendiger, weil er mit seinen Impulsen die Gedankendurchflüsse begleitet bis die ersehnte Stille einkehrt. Der Sinn aller Selbstversenkungstechniken liegt zunächst darin, die Wirkungen der Alltagsspannungen auf den Innenraum auszuschalten, um sich aus dem mit ihnen gegebenen leiblichen Verhältnis zur Welt zu entlassen.

     Der Gipfelpunkt dieser „Andacht“ ist das „ozeanische Gefühl“. Durch dieses weiß man sich mit allem, ohne Störung durch die Widrigkeiten der Welt, verbunden. Diese „All-Eins-Setzung“ beruht aber gerade auf der zunehmenden Ausschaltung der differenzierten Spannungsverhältnisse zur Welt und der Verringerung des Reflextonus.

     Mit der Selbstversenkung soll ein Feld jenseitiger Sinneswahrnehmung geöffnet und ein geistiges Nisten im Leib ermöglicht werden. Der Vergleich mit dem Traum bietet sich an. Bei diesem ist ebenfalls die Motorik stillgestellt und der Gesamttonus herabgesetzt. Auch wird ein eigener Bewusstseinszustand eingenommen, der sowohl vom wachen Alltagsbewusstsein als auch vom Schlaf zu unterscheiden ist. Nur ist uns in der Meditation klar, dass wir uns in ihr befinden, was beim Traum nur äußerst selten – eben nur im sogenannten Klartraum, zu dem man sich mit reflexiver Bewusstheit verhält – der Fall ist.

     Die in der Selbstversenkung mögliche Introspektion imaginiert, die Seele befindet sich so in unserem Binnenraum, als ob wir diesen be­treten, abschließen und durchsuchen könnten, um in ihm verborgenen Geheimnisse zu entdecken und verloren geglaubten Erinnerungen aufzufinden. Die bei einer Meditation spontan hochkommenden Aufwallungen, Einfälle, Antriebe und Pläne werden je nachdem entweder als Botschaften des Unbewussten betrachtet oder als unmittelbare Gotteserfahrung erlebt. Im Grunde fehlen der Selbstversenkung die muskeltonischen Sperren gegen die animistische Informationswelt, die nun in das Bewusstsein einbrechen kann, indem sie sich als innere Stimme meldet, die oftmals als Verkündigung durch das Filter der unbewältigten Konflikte eines Gurus gehandhabt wird.

     Das in der Meditation freiwerdende seelisch-geistige Material steht nie für sich allein. Es ist auf einen äußeren bzw. kulturellen Sinn zu beziehen. Letztendlich ist dieser sich darbietende Innenraum ein hermetischer Bereich. Er ist nur ein Einleuchten der Person. Es muss immer unbefriedigend bleiben, ihn im hermeneutischen Bezug auf ein religiöses oder sittliches System aufschließen zu wollen. Auch die thematisch geordnete Meditation zielt letztendlich auf transzendente Erlebnisse, für deren Einordnung logische oder psychologische Kategorien unzureichend sind, weil gerade deren rationale Mentalordnung hintergangen wird.

     Die Unterscheidung eines hermetischen Kerns der Person, der von einem immerzu unbekannt bleibenden Inneren zum Keimen gebracht wird, und der hermeneutischen Reflektion durch das rational-opportunistisch verhaltende Ich ist fundamental. Der Sprung in den hermetischen Bereich der Person gelingt nur als Begegnung, in der das unbekannte Innere frei wird und sich das Eigene mit dem Fremden vereinigen kann. In der Atemerfahrung geschieht dies ohne Worte. Die Hand fragt an, begleitet und geht mit. Wenn der unerzwingbare Eigenrhythmus des Atems antwortet, geschieht das Eigentliche.

     Das Sinnverstehen dagegen dient der verbesserten Kommunikation. Wird die Hermeneutik durch Körper- und Atempraktiken gestützt, darf deren Sensationserfahrung nicht dazu benutzt werden, sich des anderen zu bemächtigen. Allzu oft werden die Grenzen nicht gewahrt. Die sensationelle Macht der seelisch-geistigen Information ist das Einfallstor für die Einfältigen und die seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert auftretenden Individual­reli­gionen. Die verblüffenden Sensationen verleiten viele dazu, in anthropologischen Unmittelbarkeiten die Wahrheit zu entdecken und gegenüber den Ratio­nalitäten der Welt eine verhängnisvolle Gegenrealität zu konstruieren.

     Im Grunde soll es durch den Yoga sowie die buddhistische Meditationen zu einer psycho­men­talen Synthese kommen, die keine Früchte eines Tätigkeitsbezugs mehr kennt. Denn die indische Spiritualität verlangt, sich von dem Leiden und dem Schmerz zu distanzieren, weshalb die Seele aus den Weltbezügen herausgenommen und damit gerade das aus der Erfahrung ausgeblendet werden soll, auf was die midden­dorfsche Atemerfahrung setzt und was die personalen Reiz­konfigu­ra­tionen betrifft: Ausdifferenzierung der Sinnesfähigkeit durch gelöstes Handeln – in der Bewegung, im Sprechen und Singen sowie im Hantieren –  und im Verhalten.

     Westliche Atemarbeiten wollen im Unterschied zum Yoga  – heben wir dies nochmals auch in diesem Zusammenhang hervor – in der Arbeitsweise selbst eine Spannungsorga­nisation des „In-der-Welt-seins“ aufbauen. Die Integrität der Person soll im Spiel der informatorischen Einflüsse der Außenwelt gestärkt werden. Ein abfangfähiges Resonanzfeld funktioniert in personaler Angemessenheit, indem es Selektionen vornimmt und das Eigene durch Affinitäten zum Fremden verdichtet oder gar in seiner Offenheit, das Innerste sprechen lässt, wodurch ein Kontakt zur Begegnung fortschreiten kann.

     Durch das Übungssystem des Yoga soll dagegen die Empfin­dung völlig von ihren äußeren Objekten befreit werden. Indem die Empfindung als Erleben von Widerständen abstirbt, werden die leiblichen Bande der Person zur Welt zerrissen. Dem Yoga fehlt deshalb der intentionale Bezugspunkt, weshalb durch ihn alle bewusste Tätigkeit in ein Nichts aufgelöst werden kann. Das Sein soll in eine spirituelle Erkenntnis überführt werden. Diese widerspricht endlich den Ichdistanzen, auf denen die Traditionen des Okzidents aufbauen . Ihrer bedarf die in der Neuzeit entwickelte Selbsttätigkeit, welche innerhalb der protestantischen Religion entwickelt worden ist.. Dem Erfahrbaren Atem, der ebenfalls ein Weg nach innen ist, fehlt diese weltflüchtige Askese, auf die der Yoga durch seine Im­mo­bilisierung der Antriebe und Eigenkräfte abzielt, weshalb wir diese Atemlehre eine westliche nennen.

     Modifizieren wir durch westliche Atemarbeiten das sensorische Verflochtensein mit der Welt, so entrückt uns diese zunehmend in der yogistischen Selbstversenkung und wird zum Schein. Die Welt kommt traumhaft an und kann umso mehr als etwas Unwirkliches erlebt werden, je mehr wir aus dem Eingebundensein in die Schwerkraft- und Flieh­kraft­reize entlassen sind. Dieser muskeltonischen Basis der Empfindungen und Wahrnehmungen enthoben und entlassen von den Widerständen, Koaktionen und Einflüssen des Außenraums, entsteht das „All-Sein“. Dessen ideelle Negation lässt das religiöse und philosophische Denken einsetzten, weil diese das Nichts ist.

     Wenn das Sensorium durch die Meditation absolut negiert ist, erfährt die individuelle Seele keine Gegenkraft mehr auf der Erde. Des­sen bedarf sie, um gravitationsbezogen einen Lagetonus aufzubauen. Statt zusammen mit und gegen andere sich in einem Raum auszudehnen und zu positionieren, schwillt in der Selbstversenkung die individuelle Seele zu einer Allsphäre an. In dieser ist kein anderer mehr zu erkennen. So kommte es dazu, dass man in dieser beseelten Qual­losigkeit eine  Verbindung zum Göttlichen ausmacht. Denn das „All-Sein“ erzeugt den Eindruck, dass der Verstand aus einer mythischen Überpersön­lichkeit, Atman oder Tao, geboren ist, mit der sich die individuelle Seele vereinigt.

     Da gelungene Selbstversenkungen auf einem absoluten Anderssein gegenüber der tätigen Verflochtenheit mit der Welt beruhen, provoziert das Erlebnis des reibungslosen Alles-in-Eins-gesetzt-seins ein gnosti­sches Klischée des Guten und Reinen. Selbstversenkungen verführen zur Postulation anthropologischer Unmit­tel­barkeiten, die weder eine eigenständige Sozialvermittlung der menschlichen Natur im Sphärischen kennen noch darin eine geschichtliche Entfaltung der mensch­­lichen Biologie entdecken können. Als könnte der archaische Ursprung der Religion heute noch Bestand haben, glauben sie in fundamen­talis­tischer Vereinfachung, an magischen Erkenntnissen bezüglich des unzerstörbaren Heiligen teilnehmen zu können. Alles andere sei ein Sich-Entfernen von der ewigen göttlichen Wahrheit.
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Die entscheidende Atembehandlung
In einem leichten Ungleichgewicht befand sich bei Karla H. der mittlere Atemraum zwischen Brustbeinspitze und Bauchnabel. Er war etwas nach vorne überdehnt, weil das obere Nabelfeld fest gehalten war. Und am Rücken waren die unteren Rippen durch die Atembewe- gung zu wenig bewegt. Das Nabelfeld hat eine eigenständige energetische Dynamik, die sich danach entwickelt, ob diese mehr an den mittleren Atemraum gebunden ist oder sich mehr in dem unteren, vor allem den von unten aus dem Becken kommenden Antriebskräften abstützt. Wir haben bereits den Namen erwähnt, den sie in der middendorfschen Atemlehre haben: „aufsteigender Ausatem“

     Diese Unterscheidung ist wesentlich. Ist das Nabelfeld – wie es bei Karla H. der Fall war – über den mittleren Atemraum überenerge­tisiert, so organisiert sich das sensorische Nach-vorne-Leben der Person vor allem über das Wollen und das Beabsichtigen. Das Kontrollieren und Verstellen ist vordringlich. In diesem Fall kann die „horizontale“ Ausrichtung der Ausatembewegung nicht ihre volle Kraft entfalten Wenn die mit dem Nabelfeld gegebenen Integrationen der Bewegungs- und Verhaltensweisen, die in den Vordergrund hinausweisen, aber im unteren Atemraum gebunden sind, ist die Existenz in der Schwerkraft verankert. Das Eigene kann sicher freigegeben werden und alle Möglichkeiten des passiven Beeinflussens des anderen durch Überfließen, Austauschen und Aufnehmen können gelebt werden.

     Der mittlere Atemraum ist ein leiblicher Raum, in welchem die vertikalen Antriebe aus dem Becken und die horizontalen Dynamiken des Brustkorbes zusammenlaufen. Körperlich unterscheidet oder verbindet das Zwerchfell zwei Rumpfräume. Der mittlere Atemraum als sensorische Realität  mit einem eigenen Atemimpuls in seinem Zentrum liegt im Bewegungsbereich dieses Atemmuskels. Dieser Raum ist als körperlicher Raum eigentlich überhaupt nicht vorhanden. Und als sensorischer entsteht er erst durch das Zusammenspiel der Bewegungen unterhalb und oberhalb Zwerchfell. Atemmechanisch ist dies nur bei einer eutonischen Haltung der Fall. Darauf ist nochmals in der Unterscheidung von Ruhe und Bereitschaft als Atemmerkmal zurückzukommen.

     Hier interessiert, dass die Atemqualität des mittleren Raumes darüber entscheidet, wie die Aufrichtung als biologische Strebung zu einer an das Ich gebundenen Haltung wird. Da der physikalische Schwerpunkt des aufgerichteten Menschen im Becken liegt, kann die Ausfaltung der vertikalen Aufrichtungsantriebe im Brustkorb nur durch eine kulturell geformte Haltung zur Welt zustande kommen, welche die horizontalen Dynamiken aus dem Brustkorb mehr oder weniger gelungen integriert. In diesem Integrationsraum entscheidet sich die Qualität eines Ja oder Nein. Ichkräfte und Selbstvertrauen haben hier ihren leiblichen Rückhalt. Bei einem ungelösten Entscheidungskonflikt ist der mittlere Atemraum zerrissen.

     Wenn etwa ein mentales Verhalten zum anderen von einer Atemdynamik getragen wird, die oberhalb des Zwerchfells einsetzt und nur in diesen mittleren Raum hineinragt, weil sie sich vom vitalen Auftrieb aus dem Becken wegzieht, ist das Jasagen eine standpunktslose Anpassung oder eine kriecherische Unterwerfung. Im umgekehrten Fall, wenn sich die Atembewegung nicht aus dem Becken nach oben in den Brustraum und nach unten in die Füße ausbreiten kann, entsteht eine träge Spannungslosigkeit, die nur für ein „Nee“ den Mund aufkriegt oder zu allem „Ja und Amen“ sagt. Eine runde Lebendigkeit in diesem Raum ermöglicht ein beherztes Ja, für das die Person auch gegen Widerstände bis hin zur Verletzung von eingewöhnten Konventionen einsteht.

     In diesem Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel geschah nach nahezu einem Jahr der Zusammenarbeit in einer Behand­lungs­stunde das Eigentliche, welches bei Karla H. eine Wandlung einleitete und das den Höhepunkt der middendorfschen Atemarbeit darstellt: Unter meinen Händen entstand zunächst ein kurzes Zittern, ein Schwingen an den Körperwänden. Durch diese periphere Atemweise wird das biographisch eingelebte Verhältnis zwischen Innen- und Außenraum neu justiert. Der Atmende geht weder sensorisch in den Außenraum noch zieht er sich in den Binnenraum zurück. Seine Anwesenheit wird vielmehr von der aufdringlichen Eigenart dieser kurzen pausenlosen Schwingbewegung an der Peripherie gebannt..

     Durch das spontane Auftreten der Atemgestalt Peripherieatem werden in der Regel Wandlungssituationen eingeleitet. Und in der Tat  folgte auch hier eine umgreifende Lösung durch die Ausatembe­we­gung. Diese schwang unter den Händen tiefer als gewöhnlich zu­rück und konnte sich deutlich in das Zentrum des mittleren Raumes hinein verdichten. Dieses Erlebnis während der Ansprache des mittleren Atemraums sollte das sensorische Raumverhalten von Karla H. völlig verändern.

     Die bloß statische Positionierung im vital-sensorischen Bewe­gungsraum, in die sie sich zurückgezogen hatte, um eine stabile Lage halten zu können, konnte durch eine dynamische erweitert werden, was für die Empathie des Ich bedeutsam ist. Mit dem verlängerten, in das Zentrum des mittleren Atemraum sich hinein verdichtenden Ausatmen können sich nämlich die inneren Antriebe in wechselnden Verhaltensweisen behaupten und das Eigenanliegen nicht mehr als bedroht erfahren, von äußeren Anregungen aufgefressen zu werden. Die sensorische Differenzierung des Verhaltens im Raum, der es Karla H. ja nicht ermangelte, konnte mit der gewachsenen (Aus)Atemkraft in einer gelassenen Aufmerksamkeit eine Stütze finden. Mit dieser Atementwicklung wurde die Differenz zwischen Statik und Dynamik in der Tonusregulation aufgehoben. Der in der Gravitation gründenden Lagetonus und der auf diesem aufbauenden und in einer persönlichen Haltung gründenden Phasentonus wurden reaktionsfähiger.

     Doch verdeutlichen wir weiter, welchen Stellenwert es hat, wenn in einer Atembehandlung der Peripherieatems entsteht. Dieser zog nämlich eine vertiefte Ausatembewegung nach sich, was der Auftakt für die eigentliche Wandlungssituation war, die in der  nachfolgenden Atempause stattfand. Diese nämlich verlängerte sich zeitlich und füllte sich zur Atemruhe. In dieser Ruhequalität der Pause gab der muskuläre Gesamttonus nicht nach, sondern wuchs zu einer guten Gespanntheit, was ein Zeichen für eine wache Präsenz ist. Karla nahm aufmerksam an der Pause teil. Sie schlaffte nicht mehr wie nach kurzatmigen Luftstößen in ihr ab.

     Dieser wirklichen Ruhe, welche die quantitative Zeitlichkeit der Atempause qualifiziert, bedarf es, dass ein Zyklus von Atemrhythmen auszu­klin­gen vermag. Es folgte das Herausquellen eines veränderten Rhythmus, um diese in der Pause tonisiert gehaltene innere Räumlichkeit mit Einatembewegung zu füllen. Peripherieatem, verlängerter Ausatem und Atemruhe sind Stationen der Transzendenz: In ihrem Durchschreiten wurde der Karla H. gemäße Eigenrhythmus freigesetzt. Des­sen objektives Kriterium besteht darin, dass Atem- und Zellbe­we­gung zusammen pulsieren. Diese ureigene Bewegung, die sich bei Karla H. explosionsartig bemerkbar machte, wird im allgemeinen als „unsagbar schön“ (Ilse Middendorf) erfahren.

     Bei Karla H. trat kurz nach dieser entscheidenden Behandlung eine traurige Stimmung auf, deren Bedeutung ihr zunächst noch rätselhaft blieb, weil diese für sie keinen Bewusstseinsinhalt zeitigte. Sie wurde vor allem einer eigenartigen Schmerzempfindung am Nabel gewahr, um den herum sie zugleich ein leichtes Pulsieren, das Indiz für eine Span­nungs­­nor­malisierung durch Lösung, empfand. Erst Tage darauf, im Nachschwingen der Atemer­fahrung, setzte ein seelisches Innewerden ein.

     Karla H. wurde massiv an ihre Jugendliebe erinnert. Sie war einst in verletzender Weise zurückgewiesen worden, was bei ihr eine emotionale Abwehr hinterlassen hatte. Sie hatte für den, den sie einst so tief liebte, nur noch Spott und Verachtung übrig: Nicht weil diesem Freund beruflich wenig gelungen war, sondern weil er anspruchslos in den Tag hinein geträumt hatte. Dieser konnte damals in seiner Weichheit ihre harte Zielstrebigkeit kaum ertragen. Die Trennung hatte Karla H. damals als schmerzhaften Verlust erfahren.

     Daran gebundene Emotionen waren in ihrer Psychoanalyse, die sie bei einer Therapeutin durchführte, nochmals heftig durchgebrochen. Dabei war deutlich geworden, dass sie über kein positiv besetztes Vaterbild verfügte, der Vater mit seinen positiven Eigenschaften eigentlich eine Leerstelle gewesen war. Ihre Affektlagen waren vor allem von den Unsicherheiten und Lieblosigkeiten ihrer Mutter besetzt  gewesen, die ihren Dünkel auch an ihre Tochter weitergegeben hatte.

     Die Nabelhärtung war eine Folge dieser in der Elternbeziehung verletzten Wurzelgestaltein. Atemenergetisch bot sie Schutz in der Konfliktsituation, in welcher ihr Ich ständig durch Reizüberflutungen bedroht gewesen war. Im Grunde konnte sie bei ihrer hohen Durchlässigkeit und hohen Empfindsamkeit nur die Integrität ihrer Person bewahren, indem sie das ihre frühe Jugendliebe in die Beckenkraft fügende Nabelfeld nach oben hin zum mittleren Atemraum härtete, was sie die Hinnahme des Verlustschmerzes erleichterte, aber fortan ihr Ego überdehnen sollte. Der Preis für diese Reizschutzfunktion musste schließlich auch noch bezahlt werden mit der Entgleisung der sensiblen Funktion der Muskulatur, die Karla H. im Be­reich des Kreuzbeins Schmerzen bereitete.

     Ihre gesamte Atemsituation war aber, vergessen wir dies nicht noch einmal zu erwähnen, durch die kunststoffhaltige Dentalfüllung, ohne die wohl diese Zuspitzung in die Funktionsstörung gar nicht stattgefunden hätte. Denn wegen der biologisch inkompatiblen Kunststoffe im Mund, die heute durchgängig eingesetzt werden, wird das sinnlich-sensorische Raumverhalten beeinträchtigt, Entwicklungsprozesse werden verzögert oder ausgesetzt und letzten Endes können psyschi- sche Konflikte nicht mehr optimal verarbeitet werden.

     Nach dieser entscheidenden Behandlung waren weder Bedeutungen zu besprechen noch drängten sich sofort emotionale Regungen auf, als diese tief im Leib eingegrabene Erinnerung durch einen zugelassenen Atem gewandelt wurde. Ihr war durch das Gesammelt-sein auf die zuge­lassene Atembewegung ein anderer leiblicher Zustand tragend geworden, durch den sich ihre geistige Weltbetrachtung nachhaltig zu verschieben begann.

     Wegen dieser nach und nach ins Bewusstsein eindringenden Veränderung der Informationsverarbeitung im leiblichen Resonanzfeld modifizierten sich vor allem ihre Einstellungen zu ihrem Lebensgefährten. Wie weggeatmet waren die endlosen Gespräche, ob sie beide denn mit ihrer individuellen Lebensgeschichte zusam­men­passten: Sie waren seit ihrer Verliebtheitsphase dabei, ihre Beziehung ernüchternd herunterzurechnen, wodurch sie doch nur neue Illusionen über ihr Zusammensein produzierten, die sie erneut vereinte. Ihre Gefühle zueinander fanden  so schon lange nicht mehr die richtigen Ausdrucksmöglichkeiten.

     Ihr Partner konnte überhaupt nichts mit ihrer nach der Psychoanalyse gewonnenen Freude an der Bewegung und an ihrer Suche nach einem künstlerischen Ausdruck anfangen. Er war wegen seiner Nüchternheit in ihren Augen ein „eher trockener Mathematiker“. Dieser wollte seinen friedlichen Selbsterhalt leben, während sie ständig aus ihrer Durchschnittlichkeit auszubrechen versuchte, weil sie seit ihrer Pschoanalyse nicht mehr dem illusionären Ideal einer gelebten Normalität anhängen konnte.

     Ihre alte Vorstellung, dass sie etwas Gemeinsames bezüglich ihrer Tätigkeit oder ihrer Interessen mit ihrem Liebespartner haben müsste, war nach dieser entscheidenden Behandlung bedeutungslos geworden. Anstelle des ständigen Gährens mit seinen spitzen Aufgeregtheiten war etwas Einfaches, ein Gewäh­renlassen in ihr Verhalten eingekehrt. Ihr eigenes Wertesystem war nun nicht mehr stets das höchste. Ihre immer wieder verwirrbare und zur Entleerung drängende Innerlichkeit gab Ruhe. Eines aber traf sie schließlich sehr hart. Ihr wurde inne, wie wenig sie doch ihrem emotional sehr stabilen Mann gewachsen war.

     All ihr Bemühen, ihre Partnerschaft zu stabilisieren, begann aus ihrem Leben zu verschwinden. Das Wollen, das sich ihrer Härte im oberen Nabelfeld, dem Übergang zwischen mittleren und unterem Atemraum, verdankte, wurde durch eine ihr bislang unbekannte Gelassenheit ersetzt, weil nunmehr die Atemenergie des mittleren Atemraum und des Nabelfeldes im Atemzentrum des Becken angejocht war. Wir wissen von diesem bereits: Es ist der Atemimpulspunkt, der mit dem körperlichen Schwerpunkt identisch ist.

     Vor allem veränderte sich wegen dieser gravierend veränderten leiblichen Zustandsbefindlichkeit ihr sexuelles Zusammensein mit ihrem Lebensgefährten, das längst verkümmert war. Beide hatten sie sich nach dem Beginn ihrer Liebe hinsichtlich dieser noch nie große Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Hier, wo die Erwartungen ohnmächtig aufgegeben waren, sollte Karla H mit ihrem Mann in einen Strudel geraten, dessen Sog sie auf den vitalen Grund ihrer gegengeschlechtlichen Beziehung warf.

     Sie entdeckte nämlich ihre Hingabefähigkeit, die es ohne ein lebendiges Nabelfeld nicht gibt. Die Hingabe ist die weibliche Gebärde des passiven Wirkens auf den anderen. Sie ist in der Sexualität auch das hindehnende Neigen, das durch seine Präsenz auffordert, genommen zu werden. Sexuelle Hingabe lebt von einer intensivierten Atembewegung im Becken. So ist umgekehrt mit dem angespannten oder gar Hochatem ein angestrengtes Machen verbunden.

     Das Beabsichtigte in der Sexualität schwand zugunsten einer Innerlichkeit. Sie begegneten einander. Sie wollten sich nun deshalb nicht mehr, weil sie sich endlich beide hatten. Die Sexualität konnte nunmehr zu einer Bindungskraft des Zusammenhaltens werden. Die im Naheleben unvermeidlbaren affektiven Ent­ge­gen­­setzungen wurden harmlos und führten nicht mehr zu den immer wie­der aufgeworfenen, gar nie richtig klärbaren Entscheidungsfragen. Die Sexualität hatte alles räsionierende Erklären verschluckt. Sie begann mit ihrem Lebensgefährten, von dem sie sich endlich „zum Weib hatte machen lassen“ fraglos zusammenzuleben.

     Karla H. begann zu ahnen, dass es auch jenseits der materiellen Welt existierende überindividuelle Impulse und dem Einzelnen unverfügbare Sinnstiftungen für eine Transzendenz in einer Lebensgemeinschaft geben könnte, die einfach und schlicht sind und gerade nicht auf dem Zusammentreffen von durch eine gemeinsame Aktivität hochgespannten Seelen beruht. Das Gesetz der Geschlechterliebe und überhaupt aller Liebe folgt gerade nicht den Kommunikationsformen des Tätigseins, nicht durch das Ich zu enträtselnden, weil zwischenindividuell gestifteten Impulsen. Die echte Sprache des Herzens gründet auf einer Fähigkeit des Unverstellt-seins, die durch das Nabelfeld gestiftet wird, wenn dieses energetisch im Becken durch eine Schwerkraftbindung des Atemimpulspunktes gestützt ist.

     Überhaupt erlebte Karla H. nach dieser entscheidenden Atemstunde ihre Umwelt in anderen Nuancen. Sie träumte ungewöhnlich heftig. Sie reflektierte darin nicht nur ihre sich wandelnden Wahrnehmungen im Alltagsleben, sondern integrierte durch das Träumen ihre eigene Biografie. Offenbar hatte das Atmen ihr seelisch Unbe­wusstes aufgefordert zu träumen, ohne zugleich den freudschen Weg der Analyse gehen zu müssen, die den Traum als den „Königsweg zum Unbewussten“ ansieht.

     Wenn das in der Atemarbeit frei gewordene seelische Ma­terial durch einen von innen kom­menden Atemimpuls getragen worden ist, wurde die Person ge­wandelt. Was ohne Dazwi­schenkunft des Bewusstseins als stimmige Leiblichkeit durchlebt werden konnte, muss hinsichtlich seiner Bedeutung nicht mehr entschlüsselt werden. Dem Atem folgt das Denken, die Erkenntnis oder der Geist. Demnach war das heftige Träumen von Klara H. Resultat einer längst eingetretenen Wand­lungssituation. Durch den frei gewordenen Atemfluss wurde ihre eigene Biografie (re)kon­struiert und die individuelle Wertewelt im präkognitiven und präverbalen Reich des Leibes gegenüber dem Willen und den Entscheidungsopportunitäten des Ichs gesichert.

     Durch die wandelnde Begegnung in der Atembehandlung konnte die in der Leiblichkeit gebundene Person aufgerufen werden. Deren sich im Eigenrhythmus des Atems transportierendes Bedürftigkeit konnte als biologische Strebung realisiert und wollte nicht mehr durch ein willkürbewusstes Ich verworfen werden. Die durch die biogra­fische Vergangenheit ansonsten dirigierte Einmischung des Ichs wurde unterbunden, weil im Erlebensmoment des freien Atemflusses exakt dieses Ich transzendiert wurde. Daraufhin musste sich bei Karla H. das Ich neu erfinden, weil ihm nun die Person einen erweiterten leiblichen Rückhalt zum Einleben anbot.

     Danach stellten sich bei Klara H. selbst nach längerem Proben im Tanzen keine Schmerzen mehr ein. Sie waren nach der Zahnsanierung im Verlauf unserer Zu-sammen­arbeit erheblich geringer geworden und überhaupt nur noch gelegentlich aufgetreten. Nach dieser Behandlung war bei Karla H. nichts mehr durch das tagtägliche Üben am Atem zu kompensieren. Die durchlässige Muskulatur war mit einer variablen Abwehrkraft aus­gestattet. Die überhöhte Sehnen­span­nung war gewichen und die Gelenke hatten ihren harten Atemimpuls verloren.

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Der atempädagogische und der körperpsychotherapeutische Zugang
Die mit der Atemarbeit zu realisierende Nach-innen-Wendung trifft den hermetischen Bereich der Person. Sie ist von dem hermeneutischen Durchforschen der Seele zu unterscheiden. Das im vergangenen Jahrhundert entwickelte tiefenpsychologische Denken mit seinen kultur- zivilisations- und gesellschaftskritischen Einschüssen führt an der Natur des midden­dorf­­schen Erfahrbaren Atems vorbei, der im leiblichen Grund des Seelischen - nämlich der sinnlich-sensorischen Verschränkung von Innenraum und Außenraum wirkt, innerhalb dem die Person eine Mitte zu finden hat.

Indem alle Hermeneutik unabdingbar den Dualismus von Körper und Seele aufruft, wird der Atem nur noch als physiologischer Sachverhalt im Rahmen der physikalisch-chemischen Körperdinglichkeit gesichtet. Die Körperpsychotherapie hat gegen eine derartige Verein­seitigung Einspruch erhoben. Indem sie die andere des Dualismus einklagt, berührt sie in verschiedenem Maße die Leiblichkeit, die in der Atemerfahrung Gegenstand sein soll, ohne dass sich ihr ein Ich entgegensetzt und das reine Erleben tragend wird. Leibferne Körperpsychotherapie setzen den Körper instrumentell ein oder er ist prosaischer Stoff, mit dem tieferes bezeichnet werden soll. Leibnahe Körperpsychotherapie entfalten ebenfalls wie die Atemarbeit eine „Phänomenale Situation“, in der das Bewusstsein untergeht. Sie heben aber diesen Untergang des Bewusstseins aber immer wieder im Verlauf der Arbeit zugunsten der deutenden oder interpretierenden Verstehens auf.

     Mit den etablierten Methoden der Körperpsychotherapie gelingt es aber offenbar nicht, in der variantenreichen Bewe­gungsmodifikation des Atems psychologische Gesetze zu identifizieren. Ihr fehlen die Mit­tel, um die in der Anschauung subtiler Unterscheidung zugängliche Atembewegung psychologisch deuten zu können. Wenngleich dieses Feld nur in einem bescheidenen Maße durch die verschiedensten Formen der Körperpsychotherapie bestellt erscheint, so ist zwar die Möglichkeit eingeräumt, das Ich durch körperbezogene Deutung und ein daraus gewonnenes Verstehen zu ergänzen. Aber ein solcher Weg des körperpsychologischen Verstehens, würde das midden­dorfsche Atemverfahren aufsprengen, das von der Erfüllung durch die Empfindung der Atembewegung und der Sammlung auf sie lebt. Wenn dies nicht geschehen soll, müsste eine Psychologie wirken, die so nah und dicht an der Empfindung liegt, dass das Wort direkt wieder Atem wird.

     Ein Versuch, den körperpsychotherapeutischen Weg der Icher­gänzung, der den Atem als Spiegel zur Bewusstseinserweiterung nutzt, nun auf ein atempsychologisches Gebiet fortführen zu wollen, bei dem die seelisch-geistigen Belastungen identifiziert werden, scheint mit den Mitteln der verstehenden Deutung und interpretierenden Analyse nur Unmögliches leisten zu wollen, weil das Wesen der Atembewegung mit dem „Geheimnis der Immanenz“ belegt ist. Gerade dann wenn das Eigentliche beim Atmen geschieht, nämlich die Ichaktivität zugunsten des Erlebens untergeht und dadurch erst der das gegenwärtige Ich transzendierende Eigenrhythmus des Atems frei wird, bleibt uns der seelisch-geistige Gehalt des Atems verschlossen.

     Es gibt also gute Gründe dafür, weshalb die im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts durchgeführten, vornehmlich gestalttheoretisch angelegten Untersuchungen zu wenig ergiebig waren, als dass sie eine gegenüber der Körperpsycho­thera­pie eigenständige Atempsychologie hätten begründen können. Die psychologische Forschung kennt durchaus auch einige atempsychologische Gesetze, die emotionalen Zuständen, nicht jedoch see­lisch-geistigen Inhalten entsprechen.    

     So bleibt zunächst nur die Ahnung um den animistischen Resonanzgrund der vielschichtigen Bewegungsweise des Atems, über den sich offenbar seelisch-geistige Belastungen in diese eintragen. Von diesem magischen  Reich hat die Entwicklung der geschichtlichen Rationalität aber gerade abgesehen. Es blieb den verschiedensten esoterischen und mystischen Praktiken vorbehalten, in die seelisch-geistigen Inhalte einzudringen, die sich in der Atembewegung äußern. Die archaische Erfahrung um den Atem blieb in der geschichtlichen Entwicklung in der sakralen Sphäre aufbewahrt. Vor allem deshalb weiß der kulturelle Fundus um die Kardinalbeziehung der Transzendenz, die mit dem Atem gegeben ist.

     Eine auf die Atembewegung sowohl im psychologischen als auch im esoterischen Interesse von außen schauende Annäherungsweise, die sich der konkreten Verläufe der Atembewegung versichern will,  würde in solchem Bemühen von empfindbaren Erlebnisgrund abstrahieren und würde letzten Endes doch nur ein beliebiges Im­pres­sions­feld ausmachen, von dem es im Innern des Menschen so viele gibt. Jedem vorurteilslos angelegten Versuch, der die Selbsterfahrung zugunsten der äußeren Betrachtung zurückstellen würde, verbauen dennoch schier unüberwindliche Schranken den Weg, weil - wie bereits besprochen - die sinnliche Empfindung nicht in der kognitiven Wahrnehmung und umgekehrt aufgeht.

      Ohne von außen gesetzte Kriterien wird die unmittelbare Wahrnehmung von Eigen­emp­fin­dungen, die durch die Atembewegung ausgelöst werden, keine Regelmäßigkeit entdecken. Ebenso wenig wird sich in der intuitiven Anschauung von selbst eine Systematik offenbaren, weil die Fehlatembewegungen in ihren Reduktionen verwirrend vielschichtig sind und sich auch die Vollatembewe­gungen mit einer überraschenden Variationsbreite vorstellen, wenn sie an Bewegungsabläufe gekoppelt sind.

     Jede Aussage muss der unterschiedlichen Durchlässigkeit der Muskulatur für die Atembewegung gerecht werden. Die über das Zwerchfell und die Zwischenrippenmuskulatur hinaus sich fortsetzende Atembewegung dehnt und drückt die Gewebepartien entsprechend der geweb­lichen Spannungslagen, was wiederum verwirrend unterschiedlich aussieht. Die Atembewegung berührt manche Leibregion gar nicht oder wird von zu hoch gespannten Muskelketten bzw. von Kon­trak­tionen in den einzelnen Muskelabschnitten in die gegenüber liegenden Gewebebereiche geworfen, die partiell überdehnt sind und dadurch unterspannt bleiben. Letztendlich ist die Größe der Zwerch­fell­­bewe­gung dafür ausschlaggebend, wie die benachbarten Organe massiert, gehalten oder bewegt werden, wodurch wiederum eigene, über die umliegende Muskulatur auf den Fluss der Atembewegung zurückwirkende Empfindungsreize gesetzt werden.

      Der psychologischen Hermeneutik, die sich aufmachen will die Atemleiblichkeit zu deuten, stellt sich wiederum die individuelle Hermetik eines bloßen Empfindungs­erlebens in den Weg, das auf die Sicherheit seiner Prägnanz baut. Diese Gewiss­heit bescheidet sich, weil die Prägnanzerfahrung von Atemempfin­dungen nur den der Atembewegung innewohnenden Strukturgesetzlichkeiten als Atemformen und Atemgestalten zugänglich wird, wenn kein Bewusstsein dazwischen tritt. Dieses kann allenfalls nachträglich hinzutreten, ohne dabei noch der anderen Qualität des Erlebens noch gerecht werden zu können. Das Erleben der Empfindung als proportionale Größe (etwa hell und dunkel, kalt oder warm, dumpf oder spitz) ist etwas gänzlich anderes, als die Rede über sie oder die poetische Wortfindung um sie. Die Prägnanz der Empfindung kann nur unzulänglich durch das Wort eingeholt werden. Und über das Gespürte kann letztendlich – wenn überhaupt möglich – nur in engen Grenzen sinnvoll kom­­muniziert werden.

     Der vorurteilslos gemeinte Zugang zu den Empfindungen, die durch die Atembewegung ausgelöst werden, wird in der Tätigkeit des Bewusstseins rasch beliebig und schafft sich letzten Endes doc h nur ein willkürlich gesetztes Impressionsfeld. Die Empfindung folgt schließlich zirkulär der Ausrichtung des Bewusstseins. Deshalb kann bei der Bewertung von Empfindungen der zufällige vom wesentlichen Eindruck kaum von vornherein unterschieden werden. Empfindungen können überdies auch durch Gedanken suggeriert sein. Die Frage um die emotionale Bedeutung einer einzelnen Empfindung wiederum kann  in die Irre führen. Zugefügter Schmerz kann für den einen masochistische Freude für den an­dern nur zu ertragendes Leid bedeuten. Weil die Empfindung im Erleben in eindeutiger Prägnanz erfahren wird, in deren kognitiven Bewertung aber widersprüchliches und ambivalentes offenbart, haben wir es mit einer arationalen Seelenfunktion zu tun.

     So gesehen ist es durchaus kein Nachteil, dass im Verfahren des Erfahrbaren Atem der seelisch-geistigen Inhalt von Atemweisen geradezu im Interesse neutralisiert ist, unmittelbar das Erleben der sensorische Räumlichkeit über die Atembewegung umzugestalten. Da Empfindungen den Extremfall der absoluten Vereinzelung in einer Erfahrung darstellen, gibt aber auch das midden­dorfsche Verständnis mit seiner Grundformel „Atmen - Empfinden - Sammeln“ selbst keinen Raum, diese Hermetik aufzubrechen.

     Soll dieser animistische Stoff, wo Gleiches miteinander schwingt, aus seiner Indifferenz zum Körperlichen im Interesse einer Atempsychologie herausgehoben werden, so könnte nur dem Sog der Beliebigkeiten entgangen werden, wenn selbst die Empfindung als Empfindung in ihrem seelisch-geistigen Gehalt unmittelbar identifizierbar werden könnte.. Es dürfte kein der Empfindung selbst äußerlicher Wert­ungsprozess dazwischen treten. Solcher Differenz unterliegt nicht nur jede verstehende, deutende und interpretierende Sichtweise der Körper­psychotherapie, sondern überhaupt jedes intuitive Innewerden. 

     Es existiert jen­seits des Gegensatzes von Physiologie und Psyche ein Ein­heits­­­reich der menschlichen Selbstbewegung und Sinne, das sich entfaltet, wenn die Atembewegung gestalthaft wird. Auf diesem Terrain des Übergangs von Körper und Seele, also nicht dem Physiologischen oder dem Psychischen selbst, qualifiziert sich die middendorfsche Atempraktik. Da Körper und Seele in der Atembewegung unge­schieden sind, kann das Ich in ihr ohne Wertbewusstsein Emp­findungs­struk­turen isolieren. Deren Erleben kann so stehen bleiben, ja dem Atemwirken des Unbewussten überlassen werden, weil Empfindungen aus sich selbst heraus gar nicht reden können.

     Kurzum: Es bleibt dabei. Der Atemerfahrung in ihrem personalen Charakter weiterhelfen, ohne dass sie in ein körperpsycho­thera­peutisches Verfahren aufgelöst würde, könnte allenfalls eine aus dem energetischen Atemgeschehen selbst abgenommene Information, deren mentaler Inhalt ohne eine Beimischung des Ichs identifiziert wird. Ein solches Vorgehen hätte einen vital-pathischen Status. Denn es könnte könnte nur ein Einschmiegen in die Resonanzbeziehung sein, durch welche eine Information mit der Umwelt ausgetauscht wird. Nur ein auf der Empfindungsebene selbst stattfindender Resonanzabgleich könnte das Geheimnis der Immanenz aufsprengen, mit dem die Atembewegung belegt ist. Damit wäre der Punkt getroffen, von dem immer wieder geredet wird: Das Wort geht in Atem über und der Atem in das Wort.

     Die Wertungsdimensionen der mit der Atembewegung gegebenen Sensorik liegen entweder oberhalb von ihr im Mentalen, das sich im sozialkulturellen Sektor abstützt. Dieses Spannungsfeld der individuellen Seele hin zu ihrer gesellschaftshistorischen Konstitution wurde im vergangenen Jahrhundert im Interesse der Vitalantriebe des Lebens vernunftkritisch von der Psychoanalyse in der Tradition Sigmund Freuds, zivilisations- und religionskritisch durch die Analytische Psychologie C. G. Jungs und gesellschaftskritisch durch die Individualpsychologie Alfred Adlers, die zunächst Gemeinschaftspsychologie genannt wurde, durchgepflügt. Oder die Wer­tungs­dimen­sionen betreffen den bioenergetischen Infor­ma­tions­be­reich, der sich unterhalb der Empfindung als Frequenz organisiert und jeder Empfindung und jeder Emotion als ein eigenständiges Datum unterlegt ist.

     Die middendorfsche Lehre vom Erfahrbaren Atem will die Empfindung nur in ihrem präg­nanten Erleben der unterscheidenden Proportionen verwenden und versagt sich, die durch die Atembewegung ausgelösten Empfindungen in ihrer emotionalen Wertigkeit zu entschlüsseln. Die midden­dorfsche Atembehandlung nimmt lediglich die leibliche Ma­te­­riali­sie­rung des Seelenlebens als Datum der spürenden und sich bewegenden Hände wahr, ohne dass sich von diesem unmittelbaren Erleben durch Deutungen distanziert wird. In diesem Ineinander von sich gegenseitig anleitendem Spüren und Bewegen werden bei der Atembehandlung die dem Bewusstsein zugrundeliegenden sinnlichen Vitalschichten aufsucht, die der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat, die aber nicht mehr das Gleiche sein können, nachdem die Evolution den Menschen als ein Bewusst­seinswesen aus dem Tierreich herausgesetzt hat.

     Gerade wegen der Selbstbeschränkung auf die Empfindung kann die Atemerfahrung eine Arbeit mit dem Bewusstseinsgrund und der Basis des seelisch Unbewussten sein. Offenbar wird das Verhältnis von Bewusstsein und Erleben, Bewusstes und Unbewusstes sowie Wahrnehmen und Empfinden durch die Atembewegung gebrochen. Die an psychologischen und bewusstseinstheoretischen Fragen interessierte Physiologie und Neurologie thematisiert erstaunlicherweise überhaupt nicht, dass die subkortikalen Gehirnzentren, anatomisch engstens mit der Atemfunktion verbunden sind, welche die tonussteuernde Aktivität der Formatio reticularis ihrem rhyth­mischen Spiel unterwirft.

     Es gibt gehirnphysiologische Gründe, weshalb der zugelassene Atemfluss bei gesammelter Arbeitsweise in einer Gunst der Stunde elementar zu klären vermag. Der Erfahrbare Atem greift direkt in ein muskeltonisches Gefüge der Regeneration ein, auf das sich auch das Träumen bezieht. Sowohl das Zusammenspiel von Atem und Muskeltonus als auch der Traum betrifft vor allem das retikuläre Subsystem der Körpererinnerung, das für eine Kontinuität des sensorischen Verhaltens im Raum sorgt (vgl. hierzu auch meine weiterführende Darstellung des Zusammenhangs der retikulären Subsysteme mit den Muskelketten, die entlang den Linien des chinesischen Sondermeridiansystems verlaufen, in: Ruinöse Zahnwerkstoffe). Mit der Bindung des Ich an einen stabil eingelebten Muskeltonus  können Fremdreize,  an der nervalen Peripherie bzw. der sensorischen Leibgrenze selektiert werden. Ist dieses atembewegte Abfangfeld verletzt, schlagen diese wie im Fall der Psychose direkt auf das Bewusstsein durch.

     Der menschliche Organismus verfügt mit der atemgesteuerten Tonusregulation über eine Instanz, wel­che das Bewusstsein in seinen eingefahrenen Bahnen, seiner eingelebten Erlebnisverarbeitung und seinen erworbenen Konfliktmustern hält und dadurch auch die mentale Identität gegenüber einer beliebigen Manipulation schützt – sei es durch Körperreize, sei es durch Mentalbeein­flussungen oder auch, dass beides miteinander kombiniert wird. Deshalb rufen äußere Ansätze des Atmens, so entlastend diese vielleicht sein können und so spektakulär diese vielleicht auch Blockaden aufzubrechen vermögen, letztendlich doch nur emotionale Kreisbewegungen und körperliche Symp­tom­ver­schiebungen her­vor, bis sich nach wenigen Tagen der alte Zustand einstellt, wenn nicht (körper)psycho­therapeutisch weitergearbeitet wird oder freigesetzte Emotionen unverarbeitet bleiben.

     Während der Traumtätigkeit sind die mit dem Ich gegebenen muskeltonischen Re­ak­tionsweisen des Wachzustandes neutralisiert. Indem im Traum die Möglichkeit einer willkürbewussten Bewegung stillgestellt ist, kann die unbewusste Prägung der Seele im Leib durch die nächtliche Traumarbeit entsprechend der Tagesereignisse ummoduliert werden. Die Ana­logie zwischen der Tätigkeit des Träumens und des Bewusstseins­eingriffes durch die tonusregu­lieren­de Atembewegung liegt auf der Hand: In beiden Situationen sind die Kontrollen durch ein willkür­be­wuss­tes Ich aufgehoben. Wenn nun wegen des gesammelten Erlebens des Eigen­rhythmus beim Aufbau einer jeweiligen Atemgestalt zuvor verdrängtes Seelenmaterial frei wird, ist die Tätigkeit des Unbewussten, das sich ansonsten in analoger Weise während der REM-Phase des Schlafes als Traum vollzieht, bereits ab­ge­schlossen. Wegen dieser elementaren Gebundenheit des Unbe­wussten an den Atemleib stellt der Erfahrbare Atem eine Integrationsarbeit auf der Ebene der retikulären Körpererinnerung, Aufmerksamkeit und Wachheit dar.

     Es ist letztendlich gar nicht entscheidend, ob durch den unwillkürlichen Atemfluss unbewusstes Seelenmaterial frei wird. Nicht nur dieses, sondern überhaupt alles, was durch den Erfahrbaren Atem bewegt wird, wird in persönlicher Bedeutung auf Dauer dem aktualisierten Gedächtnis in paradoxer Weise verfügbar. Es bedarf im Grunde gar keines Gedächtnisses mehr, das immer eine bewusste Distanzierung der momentanen Leiblichkeit ist. Denn indem der durch das Sammlungserleben gestützte unwillkürliche Atemfluss, den Leib muskeltonisch an die Schwerkraft fesselt, bindet er ihn auch in der unvermittelten Gegenwart an. Nun kann der am Atem Übende sich selbst vertrauen, weil ihm die in der Körpererinnerung aufbewahrten Bedrohungen keinen Streich mehr spielen.
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Das Weibliche als Anmuten
In der Folgezeit nach der entscheidenden Atembehandlung mit Karla H., in der sich mit der Nabelspannung die gesamte Vorderseite gelöst hatte, konnte sich der mittlere Atemraum füllen, wodurch sich eine deutlich wahrnehmbare Persön­lich­keitsveränderung anbahnte. Denn sie konnte nunmehr mit ihrer geöffneten Vorderseite nach vorne leben und all die angedeuteten weiblichen Qualitäten realisieren, die auf ein offenes Nabelfeld angewiesen sind: Aufnehmen, Austauschen und Überströmen. Aber vor allem: Sie begann zu reifen, indem sie das ihr unbekannte Innere ernst zu nehmen begann.

      Karla H. verlor in den folgenden Wochen den ihr eigentümlichen Zug einer hoch gespannten Unnahbarkeit, die ihrem trotz der Psychoanalyse und nicht überwundenen und wegen der Dentalbelastung auch nicht überwindbaren weiblichen Narzissmus das Statische, Scharfe und Kalte gab. Wir wissen durch einen von Friedrich Ochsenreither vorgenommenen Resonanzabgleich, welche seelisch-geistig belastende Informationen dem zugrunde lagen und prägend durch die Familiengeschichte in sie eingeschrieben waren: „Eitelkeit und Überheblichkeit“ waren ihre Person prägende Informationen, die ermittelt worden sind. Sie fühlte sich nicht mehr so angestrengt und erlebte sich offener gegenüber anderen. „Sanft wie ein Lamm“ sei sie geworden, nachdem auch offenbar die ihr Innerstes belastende „Rachsucht“  nicht mehr die Sphäre beherrschte. Sie stritt sich kaum noch mit ihrem Lebensgefährten, den sie nunmehr in seiner klaren Abgegrenzt­heit zu bewundern begann. Sie machte nun auch durch ihre neu gewonnenen Sexualität die Erfahrung, dass manche Frage mit ihm am besten im Bett zu klären war und manche auch deshalb gar nicht mehr gestellt werden musste. Sie gewann nämlich ihre Sexualität.

     Karla H. reifte zusehends in ihrer Weiblichkeit, was darin sichtbar wurde, dass sie an Anmut gewann. Unter Anmut verstehen wir ein Abstandnehmen, das nichts Überspanntes an sich hat und das dabei durchscheinen lässt, dass es auch ein Nahesein geben könnte. Im Grunde wird die Anmut vor allem durch jene drei Strukturprinzipien des passiv nach außen wirkenden Verhaltens getragen, die wir bereits eingangs im Zusammenhang mit der Darstellung überzogener Atemrhythmen vorgestellt haben: Das Überfließen, das Austauschen und das Aufnehmen.

     Anmut lässt die Haltung graziös und das Verhalten in einer Passivität erscheinen, weil sich die Person ihrer inneren Bedürftigkeit gewiss ist, jedoch das zielgerichtete Gereizt-sein durchs Interesse fehlt. Anmut teilt sich im Umgang, im Spiel der Mienen, der Gebärden und eben in der Art des Sprechens mit. Anmut gebiert sich aus einer subtilen Bewe­gungs­weise, die direkt aus dem Innern spricht, ohne dieses preiszugeben, so dass die Person geradezu mit einem Geheimnis belegt erscheint.

     Um die Bedeutung von derartigen anzutreffenden Ausdrucksphä­no­menen zu erfassen, kann das rationale Urteilen nur fehlgehen. Denn diese können in ihrer direkten Aufdringlichkeit angeschaut, nachgeahmt und  hermeneu­tisch erschlossen, aber kaum in ihrer Unmittelbarkeit durch Datenerhebun­gen einer wissenschaftlichen Psychologie in ihrem seelisch-geistigen Gehalt sichergestellt werden. Die Vorgehensweise des Atemlehrers ist den Wissenschaften völlig fremd geworden. Sie folgt der in langjähriger Atemarbeit wach gewordenen Intuition. Diese arationale Grundform des Psychischen weist ihn schrittweise an, die persönlichen Entwicklungen eines Atemschüler im Lauschen auf die Atembewegung und im Ansprechen seiner Person sowie bei dem Erleben von gestaltenden Bewegungen aus seinen Atemkräften nachzuvollziehen.

     Mit dem Wort „Anmut“ ist keineswegs eine biologische Qualität des Weiblichen gemeint. Auch Männer können anmuten, nur wird man ihr spezifisches Mannsein nie damit bestimmen. In diesem Sinn ist Anmut eine weibliche Eigenschaft, die auch Männern zukommt, jedoch den von ihrem Animus besessenen Frauen völlig fehlt und bei Schwulen manchmal als Karikatur entgleist. Anmut strahlen jene Männer aus, bei denen sich eine abgeklärte Weisheit mit einer gelösten Of­fenheit paart. Deshalb findet man sie vor allem in der stillen Gelassenheit des alt gewordenen Mannes, bei dem das intentionale Bewusst­sein zurückgetreten ist. Anmut läst die junge Frau traumhaft erscheinen. Das werbende Model karikiert die Anmut, indem sie den Ausdruck „macht“: das Nicht-parallel-laufen der Kör­per­achsen, den geneigten Kopf, die Wellenbewegungen durch eine hängen gelassene Schulter oder Hüfte.

     Wie niemand anders mutet das Kind an, wenn es innerlich gefasst ist und eine Abstand wahrende Nähe zu ihm entsteht. Doch vor allem das Neugeborene macht uns auf den leiblichen Antrieb dieser Gelöstheit mit ihrem passiven Appellcharakter aufmerksam. Denn der Säugling unterhält durch seine Anmut das Interesse des anderen an ihm. Er besetzt sensorisch den Raum und bietet ihn angstfrei etwa der ihm vertrauten Mutter an. Er lebt seine präverbale Eutonie als bündiges „In-der-Welt-sein“, in­dem er seine Arme öffnet und seine Beine anhebt. Und von einzigartiger Qualität ist die Anmut des ursprünglichen Lächelns eines Kindes gegenüber seiner Mutter, das später durch ein selektives gegenüber anderen Gesichtern fortgesetzt wird. Die Anmut eines Lächelns ist sowohl ein erkennender als auch ein gefühlsmäßiger Akt, der sich durch eine Unverstelltheit auszeichnet.

      Als organische Erlebnisweise ist Anmut außerdem sphärenbildend, indem sie einen sensorischen Begegnungsraum zum gegenseitigen Animieren anbietet. Innerhalb dieser Sphäre gedeiht die hervorgerufene Zuwendung beim Pflegenden und spezifizieren sich rückwirkend Arten der Aufmerksamkeit innerhalb einer einheitlich wahrgenommen Welt. In diesem Wech­selspiel von Hingabe an äußere Bilder und dem affektiven Bilden von inneren Erkenntnisakten werden hand­ungs­an­leitende Intentionen herausgetrieben.

     Das Gereift-sein der Frau erscheint als eigene Weise der Anmut: Ein atemgefüllter Schul­ter­gürtel hält ihre in sich zurücklaufende Bewegtheit leicht, wodurch der andere durch das Verhalten von innen her, nämlich passiv beeinflusst werden kann. Die reife Frau zeigt vor al­lem die mimische Ausdruckskomponente der Anmut im Gesicht. Ihrem Lächeln fehlt jegliche naive Gefühlsbetontheit. Es mutet an, weil es weder natürlich noch künstlich ist und darin auf eine geheimnisvolle Andacht hinweist. Diese innere Gefasstheit zeigt sich durch eine Lösungsfähigkeit, die sich über das ganze Gesicht erhellend ausbreitet, wenn die Mundpartien in eine sachte Dehnung kommen. Möglich aber ist dies nur – und deshalb können wir von der Anmut als ein Andeuten eines tieferen Inneren sprechen –, weil nicht nur die Schultern atembewegt sind, sondern auch der Herzraum lebendig ist. Ist dieser getragen von Beckenkraft, erhält das unverstellte Leben nach vorne aus dem Nabelfeld auch die Farbe der Liebe.

     Anmut als leiblicher Sachverhalt ist nur in der phänomenalen Verschränkung mit der Welt zu begreifen, denn es ist eine einfache Inter­aktionsbahn, die auf eine verstehende Erwiderung angelegt ist. Anmut als anziehende Leiblichkeit ist zwar seelisch, entspringt aber einem geistigen Reifungs­prozess, den der atemgefüllte Herzraum trägt, der eine gesamte Lösung des Oberkörpers ermöglicht, wodurch die Person echt und graziös erscheint. Sie verweist durch die Passivität des Verhaltens im Raum auf eine geheimnisvolle Innerlichkeit, die jenseits traditioneller Ansichten von Schönheit, Grazie, Eleganz und Umgangsformen liegt.

     Dieses Ausstrahlen einer ihr bislang verwehrten Innerlichkeit konnte bei Karla H. außergewöhnlich schnell wachsen. Ihr kam wohl durch den Atemunterricht etwas zu, was sie in ihrer beruflichen Tätigkeit als Gymnastiklehrerin und Tänzerin bereits vorbereitet hatte. Dort ging sie mit einem Bewegungsreichtum um, der den affektiven Überschuss über das zielgerichtete Handeln in Ausdrucksgestalten dynamisiert. Nunmehr war es gelungen, jenseits der Bewegung einen Anschluss ihrer Person an die auszudifferenzierende Innenräumlichkeit zu konsolidieren. Die narzisstische Gestelztheit  der schönen Frau war durch den Zuwachs an Weiblichkeit einem per­sön­lichen Ausdruck gewichen, der nun unversteckt ihre Bewegungen und ihre Stimme beseelt erscheinen ließ.

     Wenn wir in dieser leiblichen Dichte das Weibliche innerhalb einer ursprünglichen Menschenkunde zu fassen versuchen, verweisen wir auf das scheinbar so Nebensächliche in der Ausdruckssphäre. Unsere Überlegungen folgen einer im vortheoretischen Feld entwickelten Prak­tik. Diese beruht auf einer außergewöhnlichen Emp­findungstiefe  und versteht sich als eine weib­liche, welche „die männliche Prägung der letzten Jahrhunderte“ kritisiert, welche sich auch in der Sozialisation besonders die höher qualifizierten Frauen durchsetzt. Die Bindung der Atemarbeit an ein gefühlsmäßiges Vorgehen und  ganzheitliches Erleben erinnert an die Diktion von Ludwig Klages vom „Geist als Widersacher der Seele“ und will mehr als nur ein spezifisches Frauenverhalten favorisieren.

     Indem Ilse Middendorf jedoch den Geschlechtergegensatz in den Personen selbst zum Thema macht, übersteigt sie die Kritik des klassischen Feminismus. Dieser hat zurecht die historischen Bornierungen erkannt, wonach die Imperative patriarchalischer Gesellschaften den nur in seiner dialektischen Entfaltung zu begreifenden Geschlechtergegensatz in vielerlei Tätigkeiten abgetötet wissen wollen wie diesen übrigens alle vormodernen Kulturen in einer beschränkten Art ausgeformt haben.
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Mutter- und Frausein
Drei Monate später nach der entscheidenden Behandlung war Karla A. schwanger. Sie hatte ihren Lebensentwurf längst darauf eingerichtet gehabt, dass sie kinderlos bleiben würde. Der gemeinsame Kinderwunsch mit ihrem langjährigen Lebensgefährten war unerfüllt geblieben. Wir wissen aus dem ochsenreitherschen Resonanzabgleich um das diesem unbewusst entgegenlaufende „Programm: kein Kind“. Dazu passt, dass sie es zu oft versucht hatten, doch ohne Erfolg geblieben waren, obgleich weder seine Zeugungsfähigkeit noch ihre Empfängnisfähigkeit durch ärztliche Befunde ihnen jeweils abgesprochen worden waren. Für das medizinische Wissen bleibt es ein unerklärliches Mysterium, weshalb es im Zuge der Atemarbeit oftmals zu einer Schwangerschaft kommt, die zuvor nicht möglich war.

     Ich selbst durfte dieses außerhalb aller normativen Medizinregeln liegende Ereignis noch ein weiteres Mal und zwar gar bei einer Frau erleben, die bereits 42 Jahre alt war. Es ist zu vermuten, dass durch die Atemarbeit sich wandelnde Möglichkeiten der Begegnung mit dem Lebensgefährten wirksam geworden sein dürften. Vom Erfahrungshorizont der Atemarbeit aus gesehen spricht auch im Fall von Karla H. viel dafür, dass hierzu die zwischenmenschliche Begegnung in der Atembehandlung durchgreifend geklärt hatte. Sie hatte die eigene Horizonterweiterung abgesichert, die ihrem Ich durch die vorgenommenen Resonanzabgleiche zugekommen waren. So konnte auch die Sphärenbildung mit ihrem Lebensgefährten konsolidiert und weiterentwickelt werden.

     Mit der Schwangerschaft  entwickelte sich bei Karla H. eine zweite Dimension des Weiblichen, die unmittelbar im Biologischen wurzelt, die aber trotzdem als ein leibliches Verhalten zur Welt verstanden werden will. Denn Schwangerschaft und Mütterlichkeit bedeuten eine spezifische Begegnung mit dem Kind. Im Mutter-sein als Kulmination des Weiblichen erweist sich der Sinn der Anmut in seiner einfachsten Form: In der gegenseitigen Animation von Säugling und Mutter spricht nur noch das Weibliche zueinander, was manchem Mann so fremd vorkommt, wenn es bei ihm als ein völlig unbewusstes Persönlichkeitsgebiet im Dunkeln liegt.

     Als weiblicher Sachverhalt gründet Anmut primär in der Gegenge­schlecht­lich­keit, die weder vor­der­gründig als eine sexuelle missver­standen werden darf, noch in der biologischen Gegensätzlichkeit des männlichen und weiblichen Körpers zu begreifen ist. Anmut – so können wir nun zugespitzt formulieren – ist die besondere Stiftung einer  leiblichen Zwischenwelt. Anmuten wird  als passives Verhalten durch eine Resonanz hervorgerufen, bei der das Eigene zu sich kommt, weil es mit dem unbekannten Inneren schwingt. Durch die verschiedenen Formen dieses anmutenden Zusammenseins, das ein passives Bezogensein von Mutter und Kind, Vater und Kind, Eltern und Kind ist, findet die ursprünglichste Sphärenbildung der Familie statt, in welcher das Kind alle grundlegenden Bewegungsformen einlebt und für sein Verhalten das gewinnt, was man gemeinhin Urvertrauen nennt.

     Die flüchtige Schönheit des liebreizenden Mädchens und des zarten Knaben kündet ebenfalls von einer besonderen Weise des Anmutens auf den Mann und die Frau, die pädophil verzerrbar ist. Und nicht zuletzt kann auch die Anmut eines Mannes auf die aktive Zielgerichtet­heit einer abgegrenzten Frau treffen, was zunehmend im gegenwärtigen Umbruch der sozia­len Geschlechter­ver­hält­nisse selbst bei Jüngeren geschieht. Die Anmut als passives Geschehen zerbricht endgültig, wenn Frauen kaltblütig Herrinnen des Geschehens bleiben wollen, während Männer danach strampeln, sich im Unterwerfen entgrenzen zu dürfen.

     Dieser Reizausfall des gegenseitigen Anmutens ist auch manifest, wenn in der kindergesegneten Ehe die Frau für den Mann nur noch zur Mama und der Mann für die Frau nur noch zum Papa geworden ist. In solcher Reduktion der Paarbeziehung auf die Elternschaft, herrscht die Mutter im Umkreis des Hauses meist in männlicher Manier. Ihr animusbesessener Eifer, der durch kein Erleben von Gefühlsambivalenzen gebremst wird, wie sie soziale Kooperationen in einer Berufstätigkeit abverlangen, verspricht keine Erfüllung eines Begehrens mehr. Der Vater vertrottelt in solcher Beschränkung auf seine weibliche Rolle.

     Sowohl der Mann als auch die Frau enthalten den Widerspruch des Geschlechtergegensatzes selbst nochmals in sich. Dessen Dialektik in seiner Einheit bildet wohl am treffendsten das chinesische Kreissymbol in der jeweils hälftigen Farbbetonung ab, wobei die eine Seite nochmals einen Punkt von der Farbe der anderen enthält. Es sind im Geschlechtererleben deshalb nicht nur Antinomien gegeben, die nichts miteinander zu tun haben, sondern der Gegensatz des Yin ist selbst wieder in das Yang eingeschlossen und umgekehrt. Dem Feminismus ist diese Dialektik fremd geblieben. Er vereinseitigt auf eigenartige Weise das Weibliche. Die Anima wird ohne den eingeschlossenen Animus betrachtet, wodurch dieser als unbewusste Qualität gar die Oberhand gewinnt.

     Demgemäß kann der Geschlechtergegensatz in einer Person integriert sein oder nicht. Die gegengeschlechtliche Dynamik entfaltetet sich nur als vital-sensorische Sphärenbildung, wenn die Anima des Mannes und der Animus der Frau mitschwingen. Wenn die Gegengeschlechtlichkeit in den Personen selbst erlahmt und nicht mehr mitspricht, zerfällt die Anmut als passives Bezogensein, das bewirkt. 

     Überhaupt ist es das gegenseitige Anmuten, das eine unverstellte Intimität in der Sexualität garantiert. Dann hat die Kontrolle des Ichs ausgedient. Mann und Frau gehen ungebrochen durch das Be­wusst­sein in der Situation auf. Ist die Weiblichkeit des Mannes mit im Spiel, schwindet selbst in dem Moment das Gemachte, wo der Mann seinen aggressiven Part spielt, verfügt er doch über die Fähigkeit zum Stoß in den Schoß. Die Fähigkeit des Mannes, seine Weiblichkeit in die Sexualität mit hineinzugeben, ist das entscheidende Anmuten, das sein Tun spielerisch, gelassen und absichtslos werden lässt und in ihm den Gedanken vernichtet, dass er es ihr besorgt..

     Das Weibliche im Mann ist das Nichtgetriebene. Ihr ist jenes Moment im sexuellen Verhalten verpflichtet, das den Mann in seiner ihm unbewussten Seite zeigt. Könnte man ihm diese durch einen Spiegel vorhalten, so würde er sich wegen dieser einfachen Schlichtheit, in der er von der Frau durchschaut wird, schämen. Denn er käme sich in seiner Weiblichkeit plump vor. Aber gerade durch sie vollendet sich die Intimität im gegengeschlechtlichen Verhalten, in dem allein nur noch die Sinne sprechen und keine akademische Codierung zwischen Sex und Gender, biologischem und sozialem Geschlecht mehr möglich ist. 

     Für die Sprache der Intimität kann es kein Lexikon geben. Ja Intimität können wir - so sehr man heutzutage im Kino kaum noch ohne Sexszenen auszukommen glaubt - auch in keinem Film sehen. Wäre sie als Rolle spielbar und könnte sie paradoxer Weise dennoch gezeigt werden, würde das Zuschauen zur Peinlichkeit geraten. Da Se­xu­a­lität letzten Endes doch nur ohne Intimität darstellbar ist, bleibt die Zur-Schau-Stellung, die sich in einem sexualsportiven Aktivismus der Gesellschaft aufhängt, in welcher das liebgewonnene Herrschaftsverhältnis zwischen Männer und Frauen weiterlebt. Bei seinem Vorhandensein werden keine vital-sensorischen Räume gemeinsam geteilt, sondern einseitig besetzt. Die Leibgrenzen werden nicht mehr geöffnet, sondern verletzt.

     Nochmals und deutlicher: Die Atemarbeit macht uns darauf aufmerksam, dass der Geschlechtsakt auf personale Transzendenz durch das sensorische Miteinander angelegt ist. Mit dem genitalen Orgasmus – und auch der vaginale ist gemeint - ist dem Menschen mehr gegeben als ein bloß physiologischer Atemreflex, der den Trieb entspannt, und wie die freudianische Rede in völliger Unkenntnis des gegenseitigen Spannungsaufbaus im Transsensus wähnt, Unlust in Lust umwandelt. Nur wenn Mann und Frau zur gemeinsamen Sphärenbildung fähig sind, also sich sensorisch aufeinander  beziehen, um ihre Seelen miteinander auszuspannen, können sie auch aneinander mit jener leiblichen Erregung teilhaben, mit der sie sich gegenseitig aufschaukeln und die sie als gehaltene Spannung zusammen dem Höhepunkt zutreiben lässt.

     Der gelungene Orgasmus verweist auf den tiefsten Begeg­nungs­charakter in der kohärent verschränkten Gegengeschlechtlichkeit. Es ist dabei völlig unwesentlich, was getan, welche Technik praktiziert oder welche Stellung eingenommen wird. Durch das personale Bezogensein durchtränken sich gegenseitig die Sinne beim Sich-einander-Geben-und-Nehmen und auch dem gegenseitigen Bemächtigen. Wegen des sensorischen Überdeckens des anderen, das auch als ein ‚Ausstrahlen’ und ein ‚Empfangen von Strahlung’ erlebt werden kann, findet der idealtypische Fall des gemeinsam erlebten Orgasmus seine Verwirklichung.

     Neun von zehn studierten Frauen sind heutzutage unfähig, den Orgasmus in der gegengeschlechtlichen Vereinigung zu erleben. Dies könnte vielleicht auch anregen, über die barbarische Härte von selektierenden Bildungs- und Sozialisationsprozessen als geheimer Kern von Anerkennungsprozssen nachzudenken, denen heutzutage die Kinder und Jugendlichen unterworfen werden. Man kann sich überhaupt nicht mehr in Deutschland ein Bildungssystem vorstellen, das den Letzten mitnimmt, den Einzelnen begleitet und auf dem Prinzip der Teilhabe beruht. Die Bildungs- und Ausbildungssysteme werden inzwischen derart vom Imperativ der Distanz beherrscht, dass das zwischenmenschlich Verbindende seine Rechte verliert, weil es kein rechtes Leben im Falschen geben kann. Die sozialen Distanzstrukturen fördern - gestützt durch die Bioinkompatibilität von kunststoffhaltigen Zahnwerkstoffen einen modernen Narzissmus, der allzu oft in eine Unempfindlichkeit gegenüber der eigenen Leiblichkeit und in eine Phantasiererei des eigenen Körpers entgleist. Was aber soll Höherqualifizierte noch zum Kinderkriegen anhalten, wenn sie nicht fähig sind, das die Person Verbindende in der Sexualität zu realisieren, diese indessen nur noch als das Persönliche entlee- rende Triebabfuhr praktiziert werden kann.

     Wenn der personale Erfüllungscharakter im geschlechtlichen Miteinander-sein  fehlt, erschöpft sich die Sexualität in einer Instrumenalisierung des anderen Körper, die in dieser „Geschlechterdienstleistung“ (Elfriede Jelenik) fast immer den einen – meist die Frau – zu kurz kommen lässt. Damit aber zerfallen auch die  konfliktauflösenden Bindungskräfte der Sexualität, die aber wiederum ohne Liebe abstumpft. Beides gehört zusammen und ohne das eine leidet das andere.

     Ohne Sexualität fehlt dem Näheverhalten in der Partnerbeziehung sein größter Affektbinder, der im Zusammenleben vieles von alleine vonstatten gehen lässt. Damit im Fall unerfüllter Sexualität gemeinsam für eine Nachkommenschaft eingestanden werden kann, müssen die Werte der Ehe und Familie gegen die Gefahr ihrer Relativierung hochgehalten werden. Selbstbestätigung durch Moralisierung setzt immer dann ein, wenn die fraglose Erfüllung in der Sexualität fehlt. Diese fragile Sphäre aber  bedarf des Schutzes und der Verteidigung. Die beiden Atemgestalten Nabelfeld und Hintergrund bilden hier das entsprechende Immunsystem.

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