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Eine Entscheidung
. . . Mit dem willkürbewussten Teil des Ichs ist auch eine Selbstdistanzierung des Menschen vom eigenen Leib gegeben, die eine
relative Unabhängigkeit vom dringenden organischen Bedürfnis ermöglicht. Dadurch können die Bedürfnisse variiert und die sinnlichen Wahrnehmungen so qualifiziert ausgerichtet werden, dass das Ich eigenbestimmte
Entscheidungen treffen kann, ohne getrieben zu sein oder von Ereignissen und Gefühlen überwältigt zu werden. Hat die Ichkraft im atembewegten Leib einen Rückhalt, führt dies zu Ver- haltensweisen, in welchen
sich eine Person unverwechselbar ausdrückt.
Der leibliche Integrationsraum über welchen das bewusste Ich seinen Rückhalt im Atemleib findet, reicht vom Nabel bis zur Brustbeinspitze. Er wird
der mittlere Atemraum genannt und ist von einem oberen (Schul tergürtel, Kopf, Arme) und einem unteren (Becken, Beine, Füße) zu unterscheiden. Bildet er sich als leib- licher Integrationsraum aus, wird ein
eigenständiger Atemimpuls aus seinem Raumzentrum erlebbar. Er kann gar beeindruckend als Atemmitte erlebt werden. In einer ungelösten Konfliktsituation fehlt dieser eigenständige Atemimpuls. Ichschwach sind
dann jene, die unfähig sind, einem anderen mit einem derartigen Impuls gegenüber zu treten.
Eine runde Lebendigkeit in diesem mittleren Atemraum spendet Ruhe und Gelassenheit und befähigt zum klaren Ja und Nein. . . . Ist
dieser mittlere Atemraum in der Atemarbeit gewachsen, dann entwickeln sich - so die Erfahrung in der middendorfschen Atemarbeit - auch die willkürlich über den Körper verfügenden und bewusst wahrnehmenden
Ich-Kräfte.
Nach einem heftigen Streit mit seiner Frau kam August H. in die Atembehandlung und just war in diesem mittleren Atemraum keine selbstständige
Atembewegung mehr vorhanden. Sein gesamter Atem bot sich mir so dar, als hätten wir nie miteinander gearbeitet und als hätte er nie eine Zahnsanierung hinter sich gehabt, in deren Folge sich seine Atemweise so
zum Guten hin verändern konnte. Die Zahnsanierung ist letztendlich doch nicht alles. Sie trifft auf ein Verhalten, beschränkt und verstärkt Einseitiges und verhindert Entwicklungen und Reifeprozesse. Im
Kontakt mit mir, im „Atemgespräch“, kam sein Atem wieder in Fluss. Doch zunächst wollte er – so verarbeitete er innerlich diesen aktuellen Konflikt – wie in früheren Atembehandlungen nichts
von seinem Ausatem wissen, wenn ich meine Hand unterhalb seines Brustbeins legte.
August H. konnte zunächst überhaupt nicht das Zurückschwingen aus der Weite empfinden, das eine Empfindung sein kann, die sich auf einen Punkt
hin verdichtet: das Zentrum des mittleren Atemraums, aus dem der nachfolgende Einatemimpuls entspringt. Diese Zentrierungsempfindung hat den Charakter einer leiblichen Relationsbeziehung. Als Atemempfindung ist
sie weder die Erfahrung des körperlich-physikalischen Raumes noch eine direkte Muskelempfindung. Gespürt wird vielmehr eine Integralempfindung, die durch die sich bewegenden Körperwände
ausgelöst wird, und sich danach bildet, wie sich die Person mit ihrem Atemsensorium im Raum verhält und das Außen dadurch in ihr arbeitet.
Mein Versuch, ihn seine Kraft, die in seiner Ausatembewegung liegt, bewusst werden zu lassen und damit seine Person an diese anzuschließen,
wodurch er den inkorporierten Konflikt durchstehen könne, schlug zunächst fehl. Meine Hände auf seiner Körperdecke unterhalb des Brustbeins schob er in einer überdehnten Einatemweite nach vorne. Es war
so, als wollte er sich das Naheliegende vom Leib halten. Er machte sich groß und überblähte seinen mittleren Atemraum narzisstisch, während er hinten im mittleren Rücken unbewegt bliebt.
Meine Hände zeigten ihm nunmehr im nachdrücklichen Begleiten zunächst sein Maß im Einatem. Hierzu legte ich eine Hand an den Übergang zwischen
Lenden- und Brustwirbelsäule und nahm den mittleren Atemraum zwischen meine Hände. Die Hand am Rücken war deutlich und orientierte die Aufmerksamkeit von August H. in diese hintere Schicht, damit dort
Atembewegung entstehen konnte, die ein selbstbewuss- tes Gegengewicht gegen die vorne überdehnte Weite bildete. Vorne nahm meine Hand die direkte Auffor- derung zurück, der eigenen Ausatemkraft zu begegnen. Sie
signalisierte beruhigend, dass weniger genügt, was bekanntlich auch mehr sein kann. Nach und nach verlängerte sich unter meinem geduldigen Haltgeben sein Ausatmen, weil sich der Rücken mit Atembewegung füllen
konnte.
Zum Ende der Behandlung war der mittlere Atemraum nicht nur in seiner Einatem-Raumweite gefüllt, son- dern auch in durch seine in das Raumzentrum
zurückfließende Ausatembewegung verdichtet. Der Atem hatte geklärt, indem die Person empfindungsbewusst ihren Raum gewann. In diesem Akt der Transzendenz hatte August H. die innerliche Trennung von seiner Frau
vollzogen, obgleich kein Wort darüber geredet worden war. Am gleichen Abend verließ er die gemeinsame Wohnung und wollte in der folgenden Zeit kein einziges Mal mehr zurück.
Es gab nach dieser Behandlung kein Hin und Her mehr, in dem die aufkeimenden Trennungsabsichten weg- gedrückt wurden. Ohne Worte und ohne Reden war
eine unverrückbare Entscheidung gefallen. Der Atemleib ließ als „körperlicher Marker“ (Damasio) des Bewusstseins nur noch einen klaren Gedanken zu, weil der in der hinteren Mitte erlebte Atem Selbstgewissheit
spendet und die selbstverliebte Haltung abfließen konnte, die sich der persönlichen Stellungsnahme verschloss. Der Atemleib hatte die desintegrativen Gefühle und die Selbstverneinung von August H.
aufgehoben. Der Wille war kernhaft aus dem Atem aufgestiegen und hat über seine Ichvorstellungen so verfügt, wie es sich Arthur Schopenhauer in etwa gedacht hat.
Schroffer könnte eine derartige Erfahrung nicht im Gegensatz zur neuzeitlichen Deutung stehen, die sich Subjektivität nur im Gegensatz zu einem
Objekt vorstellen kann, wobei das Ich mit seinen Vorstellungen diese Beziehungen interpretiert. Hier wurde von einem bewusstlosen Willen eine Entscheidung getroffen, bei der das Ich ausgedient hatte und der
Atemleib als ein „unbekannter Weiser“ (Friedrich Nietzsche), aber nunmehr als Phänomen der Integration gesprochen hat.
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Inhaltsverzeichnis “Ruinöse Zahnwerkstoffe”
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