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Ch'i symbolisiert Atembewegung
Unübersehbar werden durch das Zahnthema Grundsatzfragen der Heilkunde gestellt, die neue Wege zu erschließen verlangen, nachdem der
Streit zwischen der Schulmedizin und der an alternativen Therapiever- fahren orientierten Erfahrungsheilkunde endlos geworden ist. Wenn die Wissenschaften nicht weiterhelfen und selbst jedes weitere
Diskutieren nichts mehr bringt, weil alle Standpunkte ausgemessen erscheinen, bedarf es einer innovativen Idee, um die Gegensätze aufzuheben.
Eine solche Idee müsste durchschlagend genug sein, um die Autonomie und Ganzheit der menschlichen Biologie zu sichern. Sie müsste außerdem
ausreichend handhabbar sein, damit sie den Therapeuten als einen Suchenden zu stützen vermag. Sie sollte darüber hinaus der Selbstvergessenheit der heutigen Universitätsmedizin auf die Sprünge helfen können und
sie daran erinnern können, dass sich die Heilkunde nur naturwissenschaftlicher Methoden bedient, aber nie in deren Formalisierungen des menschlichen Organismus aufgehen darf.
Die Medizin war von jeher zu einem axiomfernen Handeln gezwungen und kann letzten Endes nur Erfahrungsheilkunde sein, die sich auf volle
Eindrücke einlässt. Wer dies vergisst und nur das Lehrbuch gelten lässt, gerät schnell in dogmatische Enge und vergibt therapeutische Handlungsmöglichkeiten. Dies gilt nicht nur für die Universitätsmedizin.
Gerade auch die Schulen der Alternativmedizin grenzen den Horizont ein, weil sie notwendigerweise die Blickweise auf ein Verfahren oder eine Vorgehensweise fokussieren. Deshalb sind alternativmedizinische Verfahren,
wie die Elektroakupunktur und die Bioresonanz, die Naturheilkunde und die Homöopathie, aber auch die Atemtherapie und die Psychotherapie, keineswegs vor dogmatischen Tendenzen gefeit.
Die Idee, die wir hier einführen, nämlich vom Atem oder besser von der Atembewegung auszugehen, liegt unübersehbar auf der Hand, wenn man sich
vergewissert, weshalb das chinesische Symbol „Ch’i“ mit „Atem“ übersetzt wird. Diese so selbstverständlich anmutende Ausgangsidee ist allerdings verstellt, seit eine andere Übersetzung des „Ch’i“
populärer geworden ist. Nicht nur Wilhelm Reich, dessen beiden Ehefrauen übrigens Atemlehrerinnen waren, begriff die Atembewegung als Bioenergie, die er durch forciertes Atmen ins Fließen brachte. Desgleichen
führte in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Franzose Soulié de Morant die Deutung „Energie“ für das Symbol „Ch’i“ ein.
Ausgang für seine Überlegungen dürfte die Erfahrung gewesen sein, dass lösende Fließsensationen in der Muskulatur entstehen, wenn mit
Nadeln in ausgezeichnete Punkte eingestochen wird. Sobald massive Überspannungen vorliegen, etwa bei Schmerzpatienten, kommt es selbst zu Lösungssensationen, wenn die Einstiche daneben gesetzt wurden. Morant
war der Auffassung, dass die Naturwissenschaften eines Tages den Nachweis erbringen würden, dass Akupunkturnadeln auf körpereigene Energieströme wirken.
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Die Atemidee ist eine anthropologische und damit eine geschichtliche. Sie kann überhaupt nie durch die Einzelwissenschaften, weder allein durch die
Zusammenfassung der psychologischen oder physiologischen noch durch ein Anhäufen der medizinischen, soziologischen und ethnologischen Erkenntnisse eingelöst werden. Ein derartiges Vorgehen bleibt in den
erkenntnistheoretischen Reduktionen, die jede wissenschaftliche Untersuchung in den institutionellen Grenzen ihrer Gegenstandsbestimmung und Gegenstandswahrnehmung vornimmt und hat, befangen. Aus
einzelwissenschaftlichen Untersuchungen das soziale Zusammenleben bestimmen zu wollen, huldigt einem technokratischen Machbarkeitswahn, wodurch das Humanum vergewaltigt wird.
Es gilt deshalb die Geschichte zu befragen. Da der Gegenstand Atem eine Kunst des Heilens, des Erlebens und der Lebensbewältigung birgt, in deren
Handhabung die verschiedensten metaphysischen Standpunkte einfließen, müssen Atemfragen philosophisch beantwortet werden. Keine Einzelwissenschaft und selbst die Physiologie nicht, sondern nur
philosophisches Denken kann diesen mit den Wissenschaften prinzipiell unvergleichbaren Bereich in seiner berechtigten Autonomie sichern und ihn der sozialen Praxis verfügbar halten.
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Inhaltsverzeichnis “Ruinöse Zahnwerkstoffe”
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