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Der pure Atemstoff
Ilse Middendorf har die Atembewegung als strukturgesetzliches Gebiet des Lebendigen erkundet
und einen strengen methodischen Umgang mit ihr entwickelt
Ilse Middendorf, Der Erfahrbare Atem. Eine Atemlehre. Paderborn 1984.

 

Atmen hält jeder für so wichtig, dass man gemeinhin glaubt, über diese Selbstverständlichkeit kein Wort mehr verlieren zu müssen. Doch verblüffender Weise interessiert in der Lehre vom Erfahrbaren Atem überhaupt nicht die physiologische Rede um den Sauerstoffaustausch, die von manchem durch großes Luftholen beglaubigt wird. Ja, bei Atemerfahrungen, wie sie Ilse Middendorf lehrt, geht es mitnichten um die Luft.

Keine vordergründigen Zwecke sollen bedient und selbst der Sauerstoffaustausch soll nicht verbessert werden. Und ebenso wenig wird eine Atemtechnik angeboten, damit es beim Sprechen oder Singen ersprießlicher vorangeht. Es interessiert etwas Innerliches – nämlich die Bewegung, die beim Atmen entsteht und  die uns zu durchströmen vermag. Wenn wir für diese Bewegung genügend durchlässig sind, können wir mit dem Kopf, den Fingerspitzen sowie den Füßen atmen. Das Atmen interessiert als energetischer Vorgang.

Die Lehre vom Erfahrbaren Atem ist wohl die subtilste westliche Atempraxis, die im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland entwickelt worden ist. Ilse Middendorf hat die Atembewegung durch ein umfangreiches Übungsensemble als gesetzmäßiges Strukturgebiet erschlossen. Bei der Arbeit mit der sensitiven Bewegung, dem Laut und den Händen begegnet uns das Lebendige in empfindbaren Atemgestalten. Diese sind gegenüber der Art und Weise wie ein Mensch handelt, sich bewegt, empfindet, fühlt und denkt keineswegs gleichgültig oder gar zufällig. Atemgestalten, ihr Vorhandensein und ihr Ausfall entsprechen menschlichen Daseinsweisen.

Diesen weiten menschenkundlichen Rahmen zieht das inzwischen über 60 tausend mal verkaufte Grundlagenwerk von Ilse Middendorf jedoch nicht. Der Zugang zum Atemstoff wird uns dort theoretisch ungeformt, unmittelbar aus der Atempraxis entwickelt und damit in Bezug auf einem Grenzbereich vorgestellt, wo die Sprache wenig Rechte hat, weil die Worte zu versagen beginnen. Überhaupt ist Ilse Middendorf davon überzeugt, dass man über den Atem nichts wirklich zu wissen vermag, ist man sich seiner nicht über die Erfahrung – und dies vielleicht nur in jahrelanger Lebensbegleitung - gewiss geworden.

Deshalb beginnt sie in der Vorstellung ihrer Atemlehre beim Einfachsten. Wie bei ihren Vorträgen fordert Ilse Middendorf in ihrem Buch auf, die Hand unter das Zwerchfell, an die Flanken, den Rücken oder auf das Brustbein zu legen, um zu erleben, dass sich hier etwas bewegt. Der Interessierte soll es nicht nur erfahren. Wird er durch die Rede, die Lektüre oder die einführenden Übungsweisen auf den beiliegenden Kassetten angesprochen, so besteht auch die kleine Chance, dass er von dieser Bewegung erfüllt wird.

Atem – Empfinden – Sammeln ist die Grundformel der middendorfschen Atemerfahrung. An den beim Atmen entstehenden Spannungsempfindungen soll der Übende anwesend sein. Über die Atembewegung als einen Bereich des Unvordenkbaren sind Bewusstsein und Leib verkoppelt. Diesen Zusammenhang schließen in ungewöhnlicher Weise Atemerfahrungen auf. Denn der Atem soll nur erlebt werden. Dies verlangt, dass das Bewusstsein mit den Spannungsempfindungen, die durch die Atembewegung hervorgerufen werden, in Hingabe und Achtsamkeit Fühlung hat.

Die Vorgehensweise muss eine andere als in der Körperpsychotherapie sein, wenn in der Atembewegung die physiologisch-psychisch indifferente Brücke zwischen Leibenergetik und Sprache existieren soll, auf der körpereigene Triebspannungen mit kulturell vermittelten Bedeutungen zusammenfinden. Was die Tiefenpsychologie genial von der Sprache der Traumsymbolik her entdeckt hat, soll von ihrem atembewegten Erregungsgrund her aufgesucht werden – und zwar dort, wo körperliche Kreislaufprozesse und symbolische Ereignisse ineinander übergehen und zur biografischen Geschichte einer Person werden.

Gerade weil die Atembewegung ein vom Physiologischen und dem Psychologischen unterschiedenes „drittes Reich“ (Helmuth Plessner) darstellt, darf gar nicht der psychologische Gehalt enthüllt werden, will man den energetischen Reichtum der Atembewegungen mit seinen subtilen Unterscheidungen zu seinem Recht kommen lassen. Alles Reden und Verstehen würde sich vor das tiefere Einlassen in den Atemstoff stellen. Der Aufbau von prägnant empfindbaren Atemgestalten, mit denen wir unmittelbare Lebenssituationen bewältigen, bedarf der Stille. Nur so kommen wir an die grundlegende Erlebnisschicht Atembewegung heran, durch welche die eigene Person verpflichtet wird, wenn der Atem wandelt.

Es gilt weder etwas zu beherrschen noch zu lenken. Überhaupt interessiert nicht das Gemachte und Beabsichtigte. Der Wille hat ausgedient. Das überraschungsbereite Zulassen, das geduldige Belauschen, das wache Gewahrsame steht im Mittelpunkt. Die Middendorfsche Atemerfahrung orientiert sich an der unwillkürlichen Atemfunktion. Ihr Ziel ist das Freiwerden des ureigenen Atemrhythmus, der als Erfahrbarer Atem entsteht.

Die Wahrnehmung, das Bewusstsein und der Wille finden Rückhalt in den leiblichen Intelligenzen, den durch die Atembewegung gestimmten Sinneskräften. Die Person beginnt klarer und eindeutiger zu werden, die Ausdrucksbewegungen und die Stimme erscheinen beseelter, schöpferische Kräfte werden frei, Funktionsstörungen können überwunden und das Krank-Sein kann besser bewältigt werden. Und nicht zuletzt unterstützt die Arbeit am Atem ein rüstiges Altern.

Zur Autorin:
Ilse Middendorf (geb. 1910), lebt in Berlin
Nach Ausbildungen in Gymnastik, Tanz und verschiedenen Formen der Leibtherapie war sie seit den vierziger Jahren Schülerin von Cornelis Veening. Sie arbeitet - wie manch andere Pionierin der westlichen Atemarbeit – noch im hohen Alter.
In den dreißiger Jahren lernte sie bei den damaligen Persönlichkeiten. Entscheidend für die Entwicklung ihrer Auffassung vom Atem und von Atemarbeit war die Begegnung mit dem holländischen Sänger und Atemlehrer Cornelius Veenig sowie der Tänzerin Betty Waren, die ihr den von innen kommenden Atemimpuls zeigten, der zur Bewegung drängt und den Ausdruck beseelt.
Nach langjähriger Mitarbeit an den Volkshochschulen Berlins sowie an Einrichtungen der Erziehungsberatung für sprachgestörte und behinderte Kinder erhielt sie Anfang der siebziger Jahre eine Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Berlin.
Sie gründete das Institut für Atemtherapie und Atemunterricht in Berlin und leitete dort die Ausbildung von Atempädagogen. Als Gastdozentin wirkte sie am Fritz-Perls-Institut Düsseldorf. Sie war außerdem Vorsitzende des Verbandes der Pneopäden AFA — Arbeitsgemeinschaft für Atempflege e.V.

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