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Herrschaftskritisch aufs Zwerchfell geblickt
Klaus Neubeck verankert die kritische Gesellschaftstheorie im präreflexiven Atemgeschehen.
Klaus Neubeck, Atem-Ich, Körperliche Erfahrung, gesellschaftliches Leid und die Heilkraft des inneren Dialogs, Basel/Frankf. a. M. 1992

 

Auch wenn es der Titel scheinbar unterstellt: Ein Erlebnisbuch wird uns mitnichten vorgelegt. Neubeck spricht nicht ein einziges Mal über seine persönlichen Gefühle. Er kann darauf verzichten, den persönlichen Erfahrungsbereich, dem er seine Studie verdankt, auch nur beiläufig zu thematisieren, weil in seiner intuitiv-atmenden Vorgehensweise der Selbsterforschung das Soziale freigelegt werden soll. Dabei richtet sich sein Konzept eines selbstbezogenen Dialogismus an den Grundannahmen der Sozialphilosophie der Frankfurter Schule aus.

Neubecks sich konzentrisch ausbreitende Aneignung des Atemthemas führt jedoch keine exklusive Wissenschaftssphäre. Er betritt insofern Neuland, als uns über seine Grundthese, wonach die innere Stimme, das situative Sozialerleben, die symbolische Ordnung der Gesellschaft und das Denken schlechthin ihren unbewussten Grund im Atem haben, bislang überhaupt keine Wissenschaften einen direkten Aufschluss geben

In seinem Vorwort zum Buch notiert der Psychiater Werner Zintl die Konfliktlinien, die Neubeck aufzuheben bemüht ist: „Der Atem wird in der Medizin auf ein physiologisches Problem verkürzt, in den Sozialwissenschaften überwiegend bloß therapeutisch benutzt und in der Esoterik poetisch und mythologisch behandelt. Mit diesem Buch wird endlich der Versuch unternommen, das Defizit an wissenschaftlich orientierter psychosozialer Atemtheorie abzubauen ... Es zeigt sich, dass der richtig verstandene Atem nicht bloß ein ausgezeichnetes Therapeutikum in der Hand des Arztes, sondern auch der Königsweg der Selbsterfahrung ist.“

Neubecks Diskurs um das „Atem-Ich“ navigiert eine herrschaftskritisch imprägnierte Aufmerksamkeit. Wir werden in eine Auseinandersetzung hineingestellt, die durch und durch den Geist von 68 atmet und uns auf das intellektuelle Zentrum aufmerksam macht, das durch die gewalttätigen Spannungen in diesem Jahr verdeckt war: um die Kritik der instrumentellen Vernunft und der von einem kritischen Marxismus gestellten Gattungsfrage einer von Herrschaft befreiten Naturbewältigung, die für diese politische Generationenbildung bis in die Mitte der siebziger Jahre hinein inspirierend sein sollten.

Benennen wir einige Stichworte. Den Gedanken um eine „geschichtliche Biologie“ formulierte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich als Forschungsaufgabe der Psychosomatik. Herbert Marcuse, ehemaliges Mitglied des Berliner Soldatenrates und Schüler des Philosophen Edmund Husserl, formulierte die Fundamentalkritik an einer durch die eindimensionale Gesellschaft geformten „zweiten Natur“, was ihm den Namen Heideggermarxist eingebracht hat. Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas fragte 1973 in „Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus“, wie die sozialen Transformationen zu begreifen seien, vermittels derer sich die soziale Aneignung der äußeren Natur in eine Sozialisierung der inneren Natur des Menschen umsetzt.

Neubeck beansprucht, die Gesellschaftskritik in einer bislang noch nicht angepeilten Tiefe der Biologie zu verankern. Dort wo sich die sprachliche Symbolik mit den instinktiven Vorgängen der menschlichen Natur im Atem verquickt, sei das Soziale zu fassen. Der Grundgedanke scheint plausibel, die prägognitiven und präverbalen Wertungssysteme des menschlichen Organismus auf ihre soziale Bestimmtheit hin zu befragen oder auch deren Naturhaftigkeit so ans Licht zu heben, dass eine Sphäre offenbar wird, in welche sich das Soziale einklingt. Um das natürliche und gesellschaftliche Band zu verknoten, verweist Neubeck außerdem auf etwas, auf das seit 1989 gemeinhin kein Pfifferling mehr gegeben wird: die gesellschaftliche Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft.

Zu besichtigen ist eine bewusstseinsphilosophisch geprägte Frontstellung, die sich im Gegensatz sowohl zur mystischen Praktik als auch zu der Erfahrung der traditionellen Atemlehren des Westens versteht. Seine Beobachtungen sollen erklärtermaßen etwas anderes als ein metaphysisches, mystisches und bedeutungsschwangeres Geraune ergeben. Doch um den Stoff zu begreifen, kommt er nicht umhin, auf die psycho-physisch indifferenten Schichten des Lebendigen aufmerksam zu machen, auf sie hinzutreten und sie auch zu berühren.

Hier liegt der eigentliche haarige Punkt , um den es bei einer derartigen Debatte nur gehen kann. Während es die traditionalen Atemlehren dabei belassen wollen, die Atembewegung zu erleben, sie in ihrer modifizierbaren Grundstimmung wirken zu lassen, will Neubeck gerade diese nicht nur gesellschaftstheoretisch unbedachte, sondern auch präreflexive Weise des Umgangs mit der Atembewegung durchbrechen. Die aber wollen gerade einen Raum behaupten, in welchem das Soziale neutralisiert sein muss, weil sich das reflexive Bewusstseins-Ich nicht regen, sondern lediglich ins leibliche Atemgeschehen einlassen soll.

Umgekehrt aber reißt Neubeck gerade die Grenzbefestigungen ein, welche die Frankfurter Schule gegen alles Leibdenken aufgebaut hatte, indem sie die Reflexion über das unvordenkbare Leibmedium durch den Irrationalismusverdacht verbannt. Nur hier aber in direkter Fühlung mit einer Situation gründet das sphärische Leben in Resonanzkreisen, in das sich soziale Gesetze einbauen und selbst nur als individuell angesehene Handlungen zu sozialen Tatsachen werden lässt. Für dieses leibliche Austauschgeschehen haben wir kaum Worte. Die westlichen Atemlehrern mit ihrem vortheoretisch gebliebenen und praktisch erschlossenen Erfahrungsgebiet verfügen jedoch über erprobte Methoden, um das dialogische Verhältnis zum anderen, nicht zu einem anderen oder dem eigenen Ich, sondern zu einer anderen Person in Gang zu bringen.

 

Zum Autor:

Klaus Neubeck, Jahrgang 1939 studierte in Frankfurt am Main Soziologie, Philosophie und Psychologie. Er war Assistent an der Technischen Universität in München und war seit 1970 als Stadtplaner, jetzt als Heilpraktiker und im Münchner Atemhaus bei Herta Richter ausgebildeter Atemtherapeut tätig.

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