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Berührt sein
Über die vitale Pathie des guten Anfassens
Moia Grossmann-Schnyder, Berühren. Praktischer Leitfaden zur Psychotonik® Glaser, Hippokrates Verlag, Stuttgart 1992.

Jeder weiß und hat schon erfahren, dass es ein gutes Berühren ebenso wie ein schlechtes gibt, durch das eine Wohlergehen hervorgerufen wird und das andere sich Missbehagen einstellt. Es ist in diesen Gegensatzspreizung unabweisbar deutlich zu spüren, ob man sich durch das Anfassen als Person angesprochen fühlt oder ob gar Feindseeligkeit mitschwingt, wenn der andere anlangt.

Die Sinnesorgane der Muskeln, der Sehnen und der Haut sind keineswegs nur passive Empfänger. Sie sind ausgesprochene Aktivisten, senorische Sucher in den umliegenden Raum, Informationsaustauscher, indem sie anderes wahrnehmen, mit Affinität und Selektion nach dem Resonanzprinzip reagieren und durch eine Spannungsmodulation des Gewebes beurteilen. Wir werden deshlab sogar schon „berührt“, wenn wir noch gar nicht angefasst worden sind.

Tritt etwa ein auf uns unbekannter Mensch zu, reagieren wir mit einer Einstimmung der Muskelsinne, mit denen wir auf der präkognitiven Ebene miteinander kommunizieren. Wir bewegen uns im Feld der Sympathie oder Antipathie, fühlen uns hingezogen oder abgestoßen, zum Öffnen aufgefordert oder zur Flucht bzw. Abwehr genötigt. Wir sprechen deshalb von Leibern, weil diese eine Relationsbeziehung von Innen und Außen stiften oder eine der jeweiligen Situation angemessene Verschränkung unserer Binnenrealität mit dem Außenraum herstellen. Der Mensch ist mit seinem Leib nicht nur hier, sondern noch real dort, wohin er sieht, fühlt, sich zuneigt und strebt.

Die leiblichen Vorgänge werten und appellieren dadurch an unser Bewusstsein, indem sie unbewusst die Aktivitäten des Ichs lenken. Ohne dass es uns bewusst wird, ist längst entschieden, weil das Ich in der Regel ein großer Opportunist ist, der nur noch notariell beglaubigt, wie wir uns in einer Gegebenheit angepasst haben. Das gewöhnliche Leben kommt ohne Reflexion aus und bei vielen Aktivitäten benötigen wir überhaupt kein Bewusstsein. Umgekehrt finden Akte des Ichs einen Rückhalt im Wertungsgefüge des Leibes, sie hallen in ihm wieder und der Leib kann auch mit seinen eigenen Bedürfnissen den Widerspruch  zum Tun des Ichs anmelden, der bis dahin gehen kann, dass die Handlung zerfällt. Das Befinden in einer Situation entscheidet, der wir meist nicht mit unserem Ich gegenüberstehen und sie so von außen bewerten.

 

 Da sich der Informationsaustausch zwischen Innen und Außen nach dem Resonanzprinzip organisiert, bei dem das eine das andere zum Miotschwingen bringt, ist das Befinden keine isolierte Empfindung, sondern Ergebnis einer gegenseitigen Einwirkungsrelation zwischen Innenwelt und Außenwelt. Sensorische Austauschblockaden manifestieren sich durch geringere nervale Innervation im Fluchttonus oder durch erhöhte, welche bei Abwehr die Muskeln verhärtet. Beide Spannungsformen entsprechen den beiden großen Affektgruppen des Rückzugs oder des Kampfes.

Uns ist selten direkt bewusst, wie wir etwa mit unseren Muskelorganen einen Menschen abwehren. Dabei spannen wir die ihm gegenliegende Leibseite an und verhalten uns ihm gegenüber extrem kontrolliert. Wir schränken dadurch unsere Wahrnehmung ein und die eng gespannten Leibgrenzen lassen in der unmittelbaren Situation keine Lösung mehr zu, wodurch der Organismus ins hohe Erregtsein überschießen kann.

Wir können den Abgewehrten nur rudimentär verkosten, weil er bei uns auf Affinität trifft. Später, nachdem wir aus der unmittelbaren Situation herausgetreten und unangenehme Erregungen wieder abgeklungen sind, wird uns oft erst klar, auf was wir mit Resonanz reagiert haben, was wir als unangenehm empfanden, wie wir uns bemächtigten ließen und jemand über uns verfügte, ohne dass wir mit unserem Ich die Situation zu kontrollieren vermochten.

Die dritte mögliche Resonanzantwort ist die angenehme Erregung, die sich als ein wachse Wohlbefinden bemerkbar macht, wenn wir sie in Distanz nehmen, wo sie nachklingt. Aber diese Qualität entsteht im vollen Aufgehen und ungebrochen durchs Bewusstsein in einer Situation. In sie hineingespannt ruft die Person über ihre Leiblichkeit den Kontakt mit dem Anderen auf, weil der Atem weit wird und wir durch seine Lösungsbewegung freudig, lustig, wohlig, erwartungsvoll oder aufmerksam gestimmt werden. Es entsteht eine gute Atmosphäre, wenn ein gegenseitiges Zugeneigt-sein vorhanden ist, bei dem unsere Leiber geöffnet sind. Wir leben hierdurch vital-sensorisch in den Raum hinein und stimmen ihn. Indem wir ihn mit dem anderen teilen, schaffen wir ein Zwischen. Der gestimmte Raum wird durch das Sphärische zum gemeinsamen Begegnungsraum.

Das Meinen des anderen, das kontaktierende Hineinleiben in einen vital-sensorischen Raum, das personale Stimmen seiner Atmosphäre ist für alles partnerschaftliche Verhalten von eminenter Bedeutung. Hierdurch entsteht der Grund, auf dem alle, die in Pflege oder Therapie Menschen berühren, ihnen zusprechen oder ihnen begegnen, ihr Verhalten so variieren zu können, dass sie ein Gefühl des Angenommenseins und Wohlbefindens vermitteln.

Moia Grossmann-Schnyder setzt in ihrer instruktiven Studie bewusst an den einfachen Ebenen des Anfassens und Berührens an und macht auf jene psychotonische Atemschicht des Lebendigen aufmerksam, in der es völlig sinnlos ist, zwischen körperlich und seelisch zu unterscheiden, weil das eigentlich Wirkende gerade darin besteht, sich nicht der Situation mit einem wertenden Ich gegenüber zu stellen, sondern in ihr mit dem wertenden Leib aufzugehen. Die dabei ausgebreiteten menschenkundlichen Aspekte sind für alle wertvoll, die ohne mit den Händen anzufassen, mit Menschen pädagogisch oder therapeutisch umgehen und auf einen partnerschaftlichen Umgang mit dem anderen aus sind.

Grossmann-Schnyder gibt über den leiblichen Grund Auskunft, der eine befriedigende Pflege ermöglicht, eine einfühlsame Therapeutenhaltung fundiert sowie einen wirksamen Unterricht befördert und zu einer verständnisvollen wie fordernden Erziehung führt. Denn die Phänomene und Prinzipien guten Berührens gelten eben nicht nur für die taktile, sondern für jede Form menschlicher Kommunikation – eben jene, die „berührt“.

 

Zur Autorin:
Moia Grossmann-Schnyder (geb. 1945)

In der Flüchtlingshilfe, als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizerischen Bundesversammlung sowie als freie Publizistin tätig. Seit 1982 Schülerin von Volkmar Glaser, seit 1988 Lehrbeauftragte am Lehrinstitut für Atemtherapie in Freudenstadt, Instruktorin für Psychotonik®.Dozentin an der Schule für Aktivierungstherapie Zürich, an der Krankenschwestern, Physio- und Ergotherapeuten weitergebildet werden.
1988 Mitgründerin des Lehrinstituts für Psychotonik, Lip am Zoo, in Zürich.

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