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Buchvorstellung: Die Anthropologische Frage I  von Markus Fußer

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 Ein verdrängtes Erbe
Mehr als ein pädagogisch-therapeutisches Verfahren
Markus Fußer, Die anthropologische Frage I. Zum geschichtlichen Charakter des Atems als leiliches Phänomen, Atemraum, Karlsruhe 2002
 


Nicht auflösbare Krisen laden dazu ein, die gesellschaftlichen Leitideen zu hinterfragen. Denn wenn es nur scheinbar nicht weitergeht, weil seit über einem Vierteljahrhundert die immergleichen Reden zum Besten gegeben werden, und doch sich zwangsläufig so vieles unterschwellig verändert, gilt es, sich dem offen- sichtlichen Versiegen von Quellen der Inspiration zu stellen. Im Interesse, sich der kulturellen Ressourcen der eigenen Traditionen zu vergewissern, legt der Middendorf-Atemlehrer Markus Fußer einen unerwarteten geschichtsphilosophischen Versuch vor, der ausgesprochen verwegen erscheint. Sein in drei Bänden zu explizierenden Denken setzt in jener biologischen Tiefe an, in der sich der Mensch präreflexiv und vorgesell- schaftlich auf den anderen bezieht: auf dem strukturgesetzlichen Gebiet der Atembewegung.

Eine Leerstelle
Sein Wesen zeigt das Phänomen Atem in der westlichen Tradition nicht direkt, weil sich das Denken der griechische Antike entfalten musste, nachdem durch die einströmenden Völkerschaften und Kriege sowie die gegenseitigen Qualereinen die soziale Bindung zu den archaischen Institutionen zerrissen war, die noch von einem sinnlichen Unmittelbarkeitsbezug lebten. Die abendländische Philosophie hat ihr Rationalitätsver- ständnis von einem den Körper transzendierenden Geist entwickelt, indem sie gegenüber der menschlichen Eigennatur jeden Unmittelbarkeitsbezug zum Leib aufgegeben hat, um ein sachliches Verhältnis zum Kör- per zu entwickeln.

Der Atem blieb fortan in der sakralen Sphäre gebannt. Das christliche Verständnis bewahrte ihn als ein immerzu erscheinender Wesenskerns des Göttlichen auf. Nicht nur in Asien, auch im mittelalterlichen Kloster wurde das „All­sein“ gekannt, in dem der Atem seinen Gipfel als mystische Erfahrung fand. Wenn- gleich der kulturelle Fundus davon überzeugt ist, dass der Atem die Kardinalbeziehung der Transzendenz darstellt, ist angesichts der vielen Atempraktiken und deren geringen wissenschaftlichen Durchdringung das Vorhandensein einer Leerstelle offensichtlich.

Dem gravierenden Problem einer Erklärungslücke war sich der prominente Psychologe und Biologe Frederik Buytendijk bewusst, der dem anthropologischen Denken in der Physiologie und Medizin verpflichtet war. Er wollte den Verlauf der Atembewegung als das Ergebniss einer sensorischen Reso­nanzbeziehung zwischen Binnenrealität und Außenwelt  begriffen wissen und sah in der Bedeutung der Empfindungen, die durch sie ausgelöst werden, die „eigentliche anthropologische Frage, auf die es wissenschaftlich (fast) keine Antwort gibt“.

Und es könnte sein, dass sich innerhalb jenen historischen Ordnungsvorstellungen, in denen sich die Wis- senschaften präsentieren, gar keine Antwort gegeben werden kann. Dass im vergangenen Jahrhundert die erfahrungskritischen Wissenschaften in der Enträtselung der „eigentlichen anthropologischen Frage“ kei- nen Jota weitergekommen sind, hat damit zu tun, dass sich die anthro- pologische Frage durch keinen un- mittelbaren Zugriff beantworten lässt. Das Wesen des Atems ist verdeckt, wenn die selbsterfahrene Atem- bewegung offenbar eine andere als die ist, welche im gewöhnlichen Leben mitläuft.

Es ist ein anthropologischer Gemeinplatz, den die westlichen Atemarbeiten bestätigen und auf den sie hin- arbeiten: Das Gewinnen einer guten  Spannung  zum „In-der- Welt-sein“ (Martin Heidegger) verlangt, vom inneren Organleben abzusehen, und verbietet, seine Aufmerksamkeit zwischen Innen und Außen aufzu- spalten.Die am besten unwillkürlich und unbewusst ihre Dienste leistende Atembewegung wird aber nur zu einer Beziehung der Transzendenz, wenn sie nicht bewusst oder wissenschaftlich distanziert beobachtet, sondern in gesammelter Präsenz erlebt wird.

Mitgehen mit dem anderen
Fußer setzt in seiner geschichtsphilosophischen Studie tief an. Er fragt zunächst nach dem Atemboden der Sphärenbildung des menschlichen Zusammenlebens, dem Heiligen und Profanen. Er handelt dabei Ur- sprungsproblematiken der Entstehung des Bewusstseins, der Philosophie und der Medizin im Interesse ab, wie zu Begriffen von der menschlichen Eigennatur zu gelangen ist, die auf eine kommunikative Praktik be- züglich des Leibes und einen partnerschaftlichen Umgang mit dem anderen verweisen. Dieses Anliegen war 1968 von dem Heideggermarxisten Herbert Marcuse aktualisiert worden und sollte die später einsetztende Popularisierung körper­psyscho­therapeutischer und kommunikationspsycho­logischer Prak- tiken weiterstoßen. Fußer legt Grundlagen für das Begreifen einer geschichtlichen Ganz­­heit, die ihre Fragen in der praktisch zu bewältigenden Lebenswelt und nicht der Wissenschaften ver­wurzelt wissen wollte.

Fußer zeigt, wie seit der Wende zum vergangenen Jahrhundert Praktiken der Atem- und Leibpädagogik mit ihren menschenkundlichen Inspirationen entwickelt worden waren, deren Einflüsse auf die Reformpädagogik, die Heilkunde, den Feminismus, die Kunst und das soziale Zusammenleben noch heute den ge- heimen Resonanzboden für alle gesellschaftlichen Reformbemühungen bilden. Ãœber diese geschichtliche Tiefen­ dimension, die Fußer in der Verschränkung mit systematischen Interessen gegenüber der Entwicklung der Atemarbeit aufleben lässt, ist ebenso wenig bekannt wie über die atempädagogischen Ursprünge der heute nicht mehr wegzudenkenden Körpertherapien und der humanistischen Psychologie. Wie für so vieles ist auch hier der Traditionsbruch von 1945 für die Verdrängung verantwortlich

In den Bereichen der Medizin und Heilkunde, der Erziehung, der Pädagogik, der Bildung und der Ausbildung sowie der sozialen Organisation der Arbeit ist längst etwas auf die Tagesordnung gesetzt, das nach einem tieferen Wissen um die menschliche Eigennatur verlangt und über das - wegen der engen Bindung von Bil- dung und sozialer Selektion - zu wenig verfügt wird: den Sinn für die inneren Potentiale der menschlichen Reifung, die Unterschiede und die Qualität in der Einzigartigkeit eines jeden Individuums sowie den Mut zur eigenen Entscheidung und die Fähigkeit zum Mitgehen mit dem anderen.

Durch die westliche Atemarbeit sind diese Anliegen in ihrer leiblichen Unmittelbarkeit als Entwicklung der dialogischen Traditionen entdeckt und durch ein Jahrhundert der praktischen Erprobung in verschiedenen Verfahren konsolidiert worden. Es wurde ein historisch neues Erfahrungsgebiet in die Welt gesetzt, das fast nicht theoretisch erschlossen worden ist und verspricht, die Autonomie und Ganzheitlichkeit des mensch- lichen Organismus gegenüber der einzelwissenschaftlichen Analyse und seiner technischen Beherrschung zu sichern.

Die Bedürfnisfrage im politischen Widerstreit
Die mit der Moderne bewusst gewordenen Vitalbedürfnisse hatten der Philosophie in Deutschland ihr zen- trales Thema gegeben. Dieses war wegen der traumatischen Religionskriege so intensiv durchdrungen und lebte wie sonst nirgendwo über die Romantik hinaus in allen Gesellschaftskrisen wieder neu auf. Der Stoff wurde durch die Arbeiterbewegung politisiert und durch die bürgerliche Jugendbewegung moralisiert, bis er schließlich in die Entzweiungen des zwanzigsten Jahrhunderts hineingerissen wurde und 1968 nochmals in ideologiekritischer Negation zum Bestehenden durchgearbeitet wurde.

Indem Fußer die kulturellen Wurzeln der Atemlehren in den geisteswissenschaftlichen Traditionen freilegt, zeigt er mehr als es lieb sein kann, wie sehr der Nationalsozialismus auch von diesen genährt wurde und er diese auch selbst transformiert hatte. Aufs Atmen bezogen gab es nicht nur die Frauen der linken Freudia- ner Wilhelm Reich, Otto Fenichel und Erich Fromm, die Atemlehrerinnen und Schülerinnen von Elsa Gindler waren, und wie etwa die Atemschülerin Ruth Cohen, die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion, emigrierten. Die Atemarbeit fand 1936 im „Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie“ auch einen institutionellen Ort. Dort wurden – maßgeblich inspiriert durch Richard G. Heyer – im engen Zu- sammenspiel von Psychotherapie und Atemarbeit die ersten Grundlagen für eine psychosomatische Me- dizin gelegt.

Nicht alles wurde 1933 jäh unterbrochen. Der ehemalige Kommunist Fußer legt keine Schwarz-Weiss- Zeichnungen vor und ist gegen- über der hypermoralisierenden Kritik dieser Zeit gefeit. Er verdammt nicht, sondern sucht bis an die Grenze zur Sympathie zu verstehen, indem er Querverbindungen zu anderen Bewegungen, dem Bauhaus, der Anthroposophie und der Reformpädagogik sowie der heideggerschen Existenzphilosophie und der gehlenschen Institutionentheorie zieht. 

Die Negation des Leibthemas
Die sich stark verändernde bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft verkürzte den zu betrachtenden Geschichtsraum. Nach 1968 war Atemarbeit nur noch im reduzierten Verständnis einer Körperpsychothera- pie genießbar. Denn das mit ihr verbundene Leibthema und die durch dieses berührten kulturellen Leitbe- griffe waren diskreditiert. In beiden deutschen Teilstaaten war jener mächtige Teil der kulturellen Tradition, in denen das Atemthema verwurzelt war, gemäß dem unhaltbaren Verdikt des kommunistischen Theoretikers Georg Lukács als den Nationalsozialismus vorbereitenden Irrationalismus in die Schmuddelecke ge- stellt. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule vollzog diese Art der Geschichtsschreibung, welche ideologie- kritische Kämpfe führte, nach und temporierte damit nach 1968 das zeitgenössische Geschichtsverständnis der alten Bundesrepublik           

Die Tabuisierung des noch in der ersten Jahrhunderthälfte virulenten Atemthemas veranlasst den Autor, die ideologiekritische Negation der Leibphilosophie und Anthropologie auszuleuchten. Fußer sieht das entschei- dende Dilemma darin, dass die Interaktions- und Kommunikationstheorien wie sowohl die traditionelle Geistmetaphysik und der deutsche Idealismus insgesamt die Dimension des Sozialen verfehlen und das Politische verdrängen. Mit seinem methodischen Atheismus stemmt er sich folgerichtig auch gegen die Selbstbegründungen des Sozialen durch mysische Verinnerlichung. Fremd bleibt ihm die wohlfeile Predigt  anthropologischer Unmittelbarkeiten, die seit dem Aufkommend der Privatreligionen zu Beginn des vergan- genen Jahrhunderts konsumiert werden, um auch die Ausübung von Atempraktiken zu begleiten.

Die kritische Aneignung der in der Nachkriegsgeschichte negierten Traditionsbestände wurde schließlich dadurch versperrt, weil die in den sechziger Jahren konzipierten und eingeleiteten Reformprozesse wegen der nach 1968 überschießenden politischen Einflussnahmen der Neuen Linken abgeblockt und in techno- kratische Bahnen gelenkt wurden. Dadurch wurde das vitale Zusammenspiel von Engagierten und Ambi- tionierten, dessen jede Gesellschaft zu ihrer institutionellen Weiterentwicklung bedarf, nachhaltig still- gestellt.

Wie stark der geschichtliche Faden gerissen ist,

Das Seelische und das Soziale
Das vergangene Jahrhundert war zweifelsohne das Jahrhundert der von Sigmund Freud begründeten Psy- choanalyse. Diese ist trotz vielen Bemühens in umfangreicher Forschung nie ihres somatischen Grundes gewiss geworden, weshalb die Psychosomatik eine Psychoanalyse ohne Körper geblieben ist. Der Atem erscheint dabei allenfalls als ein Epiphänomen des Seelischen. Was die Psychoanalyse ansonsten über den Körper weiß, taugt zur lyrischen Ideologiekritik vermag aber keine therapeutische Praxis am Atem anzuleiten. Nach der machtkritischen Dekonstruktion der abendländischen Werte erscheinen die Inspira- tionen der Psychoanalyse erschöpft.

In der im Manuskript vorliegenden „anthropologischen Frage II. Die Atembewegung - das gemeinsame Dritte von Körper und Seele“ geht Fußer vom Bewusstsein aus, um den Atemgrund der seelischen Dynamik von Unbewusstem und Bewusstem dingfest zu machen. Die Vorstellung der kulturellen Verständnisse zum Verhältnis von Atem und Seele führt auf die systematischen Anliegen de verschiedenen westlichen Atemschulen, die in der Bewusst­seinsfrage gipfeln.

Auf dem damit gewonnenen Terrain spinnt Fußer den ich­psycho­logischen Faden weiter, der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer zentralen Debatte von dem Psychoanalytiker Hartmann um die Psychoanalyse gewickelt worden war. Die ungeklärte Frage um die Verschränkung der Akte des Ichs mit dem Leib ist in der Gliederung der chinesischen Meridiane zu suchen. Von hier aus kann in atempsycho­logischer Perspektive der seeelisch-geistige Informationsaustausch im vital-pathi­schen Reso­nanz­k­reis thematisiert werden.

Die Gestalthaftigkeit der Atembewegung soll in der „anthropologischen Frage III. Jenseits der Geistmeta- physik“ zum Ausgangspunkt der Thematisierung des Sozialen werden. Soziale Kräfte wirken im Individuum über den Aufbau und die Verletzung von Atemgestalten. Gerade ihre individuelle Unverfügbarkeit durch das Ich qualifiziert Atemgestalten dazu, sich mit den handlungsjenseitigen Wirkkräften der Gesellschaft zu vermählen. So bindet etwa die Atemgestalt Hintergrund all jene in einer Sozialität fraglosen Selbstverständlichkeiten sensorisch, die dem einzelnen die Gewissheit spenden, dass das was er tut, richtig ist. Vermag er aber keine individuelle Horizontbildung über die Atemgestalt Hintergrund in einen bestimmten sozialen Geselligkeit ausbilden, ist er der affektiven Gewalt des kollektiv Unbe­wussten ausgeliefert. Er kann sich nicht im Raum sensorisch ausdehnen und auch nicht in ihm positionieren.

Auf die Frage, wie das natürliche und das soziale Band in der nachindustriellen und nachsozialistischen Gesellschaft neu zu verknüpfen ist, sind Antworten in der französischen Soziologietradition zu suchen, wie sie von Emilie Durkheim begründet, von Maurice Halbwachs fortgeführt und in neuerer Zeit von Pierre Bourdieu gesell­schaftskritisch ausgestattet wurde. Den Atemlehrer und Soziologen Fußer interessieren die im Kollektivgedächtnis veranker­ten überindividuellen Motivkräften, nachdem der im vergangenen Jarhundert formierten kleinbürgerlichen Selbstmotivierung zunehmend der soziale Antriebsstoff abhanden kommt.

Fußer sieht einen neuen Egalitarismus geradezu vorprogrammiert, der eine geschichtlich neue Qualität der Selbstbetätigung hervorbringen wird. Die zwei in den Strukturgesetzen der Atembewegung angelegten und aufeinander angewiesenen Grundbedingungen der menschlichen Existenz, das Unterscheidende und das Verbindende, das egoistisch Trennende und das unabdingbar Parteiische mit dem anderen werden so aufeinander bezogen sein, dass eine Brüderlichkeit entsteht, in welcher nicht nur der letzte mitgenommen wird, sondern die Entfaltung der eigenen Kräfte darauf angewiesen ist, dass sie alle die ihren freisetzen. 

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