Zwischen Bewusstsein und Erleben Markus Fußer schließt die als Erfahrungsgebiet gegebenen Atempraktiken des Westens theoretisch auf Markus Fußer, Der atembewegte Leib.
Über die westliche Arbeit mit der Hand, dem Laut und der Bewegung, Atemraum, Karlsruhe 2003
Die Phänomenologie eines Maurice Merleau-Ponty sagt uns: Alles was ich weiß, tue, fühle und empfinde wird durch meine existenzgebundene
Welterfahrung organisiert. Der Atemlehrer fügt hinzu: Diese ist in ihrer bioÂgrafischen Gewordenheit in der Atembewegung konsolidiert. Vor allem Wahrnehmen, Denken und Sprechen des Ichs wertet die Person
sensorisch im Verhältnis von Innen und Außen durch den atembewegten Leib. Durch seine animalische Erbeschaft ist dem Menschen ein vital-sensorisches Resonanzreich der vorsprachlichen Informationsverarbeitung durch
die Atembewegung mitgegeben. Die Verschränkung von Atemleib und Bewusstsein ist dem Ich jedoch nur indirekt zugänglich und bleibt ihm nahezu unverfügbar.
Sind die Akte des Ichs an den Leib angejocht, existiert ein Rückhalt, durch welchen Selbstsicherheit gewonnen wird.
Das Tun und Lassen erscheint stimmig. Wohlbefinden entsteht, weil die Atembewegung befreit schwingt. Das willentliche Tun hallt in den leiblichen Empfindungen wider, wodurch es unbewusst korrigiert und geschmeidig
geführt wird. Doch der Leib kann mit seinen Bedürfnissen auch in Widerspruch zum Bewustsein geraten. Missbefinden macht sich breit. Werden die leiblichen Appelle nicht vom Ich angenommen, kann die Handlung
zerfallen und die Verhaltenssicherheit ausrinnen.
Wegen des möglichen Widerspruchs zwischen BewusstÂsein und BefinÂden treten die verschiedensten Körper- und
Atemtherapien nicht nur mit dem berechtigten Anspruch auf, Grenzen der traditionellen Psychotherapien zu übersteigen. Manche behaupten gar, dass „der Körper ... nicht“ lüge. Doch derartigen Postulaten
anthropologischer Unmittelbarkeit ist zu widersprechen. Die leibliche Auskunft kann nicht von vornherein besser dran sein, weil zwischen Wahrnehmung und Empfinden eine Differenz existiert. Wegen ihr ist dem Menschen
ein erkenntnistheoretisches Problem aufgegeben. Die metaphysische Kehre von Emmanuel Kant begründet sich nämlich darin, dass wir die Gesetze der Natur nicht in dieser direkt erkennen, sondern dass wir unsere
Anschauungen in diese hineinlegen.
Einfache Antworten scheinen ausgeschlossen. Zunächst hintergeht der unmittelbare Blick auf die
EmpÂfinÂdungsÂdaten in den Körper- und Atemarbeiten die absolute SelbstÂgewissÂheit, wie sie dem carteÂsiaÂnischen Ich zukommt, das zum Ausgang des neuzeitlichen Denkens und der Wissenschaften wurde. Dieses
ist bekanntlich so pur tranÂszenÂdenÂtal, dass es sagen kann: „Ich bin, weil ich denke“. Gegen diese Verengungen der transzendentalen Bewusstseinsrationalität wurde philoÂsoÂphieÂgeÂschichtÂlich
zunächst die Praxis und schließlich das Leben ins Feld geführt.
Im vergangenen Jahrhunderts wurde mit zivilisationskritischem Duktus der Atemleib als Erfahrungsgebiet erkundet. Die
Sackgassen sind inzwischen unübersehbar: Die eine führt in eine weltÂflüchÂtige Spiritualität, die östlich beliehen daherkommt, um das Denken selbst als Schein zu entlarven. Die andere rationalisiert mit
wissenschaftlich-technischer Inbrunst die KörperÂbeherrÂschung. Sie folgt der sich selbst zwingenden Selbsttägigkeit, die sich gegenüber dem eigenen Leib in Distanz verhält. Die Pioniere der westlichen
Atemarbeit haben den dritten Weg einer Lebenskunst gesucht, auf dem die biologischen Tendenzen zur VollatembeweÂgung freigesetzt werden: Diese bergen eine Programmstruktur der SelbstÂbeweÂgung mit einer
produktiven und kreativen Haltung zur Welt.
Selbstgewissheit Atemerfahrungen scheinen zunächst alle erkenntnistheoretischen Probleme um den Status von Selbsterfahrungen
zuzuspitzen. Sie stellen den Übenden mit einÂzigartiger Klarheit in eine doppeldeuÂtige Situation: Wenn dieser beim Belauschen der eigenen AtemÂbeÂweÂÂgung Empfindungen erlebt, so gründen diese zunächst in
einer Realität, die sich fundamental von jener seines Atemflusses unterscheidet, auf den er gar nicht achÂtet, wenn er beim gelungenen Handeln seine Sinne auf eine Sache oder den anderen ausgerichtet hat. Die Krux
dabei ist, dass die empfindende Selbstzuwendung eine Atembewegung schafft, die den eingenommene ufmerkÂsamÂkeitsmaßen im Verhältnis von Hingabe und Achtsamkeit entspricht.
So ohne weiteresführt also kein direkter Atemweg zu einer allgemeingültigen WahrÂheit. Sollen Atemerfahrungen als
Erleben innerer Abläufe nicht ins Belieben abgleiten, ist ein schmaler Weg zu beÂgehen. Sein Abweg ist die Selbstproduktion von Atemstörungen durch die Selbstzuwendung. Alle westlichen Atemschulen
qualifizieren ihre Methoden und Übungsweisen darin, der leichten Störbarkeit des Atems zu begegnen.
Es gilt sich mit Sammlungskraft so in die AtemÂbewegung einzuschmiegen, bis schließlich alle wollende und
beabsichtigende, beobachtende und wertende BewusstseinsÂaktivität untergeht. Erst wenn das pure Erleben eingekehrt ist, kann der unwillkürliche Eigenrhythmus freiwerden. Indem die Sammlung als Übergangsfeld
zwischen Bewusstsein und Erleben alle Eigenschaften des Ichs verliert und sich als personale Beziehung in den eigenen Atemleib einlässt, wird ein Zugang zum Atem als KardinalbeÂzieÂhung der Transzendenz
möglich. Durch eine gesammelte Atemweise entsteht Erfahrbarer Atem (Ilse Middendorf), der wegen dem Untergang des verstehenden Ichs sein „Geheimnis der Immanenz“ (Wilhelm Szilasi) bewahrt.
Verbessert sich der Atemfluss, können die Ich-Kräfte des Übenden einen gebietenden Aufruf aus der leiblichen
ZustandsbefindÂlichkeit erfahren. Darüber kann sich eine GewissÂheit über die eigene Existenz ausbilden. Während wir durch die verstehende und deutende Analyse seelisch-geistiger Inhalte inne werden, leben
Atemerfahrungen durch das Erleben prägnanter Empfindungen von einem ErfüllungsÂcharakter, durch welchen die Person aufgerufen wird. Der Kern der Person ist nur durch Begegnung zugänglich, die das unbekannte
Innere regieren und das Fremde in das Eigene aufnehmen lässt.
Entspannung und Lösung
Fußer spinnt anhand der theoretischen Durchdringung der Atemlehre von Ilse Middedndorf einen Leitfaden, mit dem sich die verwirrende Vielfalt der
heutzutage angebotenen Verfahren ordnen lässt. Die Frage der Beteiligung der Person – als Bindung der eigenen Stellungnahme zur Welt und zu sich selbst an die Leiblichkeit – arbeitet der Autor als das
wesentliche Kriterium heraus, anhand dessen sich die verschiedensten Verfahren bewerten lassen. Ohne perÂsoÂnale Beteiligung kommen Entspannungstechniken aus und alle Praktiken werden gar im schlechten Sinne zu
EntspanÂnungsÂübungen, wenn sie ohne inneren AnÂschluss an die Person ausgeführt, also nur „gemacht“ werden.
Gegenüber Entspannungstechniken mit ihrem suggestiven Einschuss betonen die westlichen Atemlehren, dass es die
Person ist, die atÂmet. Man spricht deshalb von Lösung durch Atemerfahrungen. Außerhalb der personalen GeÂrichÂÂtetÂÂheit der Sinne auf die eigene Atembewegung liegt auch die instrumentelle Nutzung des Atems
für psychoÂtheÂraÂpeuÂtische ZweÂcke. Der Personalität ebenfalls enthoben sind yogisÂtiÂsche SelbstÂverÂÂsenÂkungsÂprakÂtiken, die über die NeuÂtraÂlisierung der SchwerÂkraftreize auf die
Erlebnislogik des „AllÂÂseins“ abzielen. Die SelbstverÂsenkung ist letztendlich darauf angelegt, das „In-der-Welt-sein“ (Martin HeiÂdegÂger) im Nichts aufzuheben.
Der Status von Lösungsmethoden kann damit beschrieben werden, dass das Ich noch die Führung innehat.
Und die Körperpsychotherapie will durch den instrumenÂtellen Nutzen des Atems dieses Ich wieder in sein Recht einsetzen. Beim ErÂÂfahrbaren Atem dagegen hat das transzendentale Ich endgültig ausgespielt. Der
unersetzlich Andere wird zum Grund der menschlichen Begegnung.
Kaum eine andere manuelle Maßnahme kann in ihrem Einfühlen die Person des anderen so klar ansprechen, wie die
Behandlung, die sich auf die Atembewegung direkt bezieht. Der Kontakt in der Atembehandlung führt zu einer kohärenten sensorischen Verschränkung der Leiber, innerhalb der sich zwei Personen in ihren
Eigenrealitäten aufrufen, um einander zu begegnen.
Atemgestalten Zum Auftakt seiner Aufsatzsammlung befragt Fußer eine Aussage von Ilse Middendorf. Kann „Atmen ein geistiger
Vorgang“ sein, wenn das middenÂdorfÂsche VerfahÂren lediglich auf der Grundformel „Atmen – Empfinden – Sammeln“ beruht und damit die mit dem „Geheimnis der Immanenz“ gegebene psychische Indifferenz
der Atembewegung wahrt? Die PhiloÂsophie eines Kant spricht Empfindungen nur subjektivistische BelieÂbigÂkeit zu, weshalb MidÂdenÂdorfs insistieren auf das geistige InvolÂviertsein des Atmens eine ZuÂmutung
für die transzendentale Rationalität darstellt.
Die Entdeckungen der westlichen Atempioniere wurzeln in einem strukturgesetzlichen Gebiet, auf dem die
transzendenÂtalen UnterÂscheiÂdungen von Körper und Seele, Materiellem und Ideellem sowie Subjekt und Objekt gar nicht gelten. Weder die christliche Tradition eines gleichbleiÂbenden und immerzu neu
durchscheinenden Wesens noch der archaische AtemÂmythos indischer Religiosität kann demnach noch beliehen werden. Es steht die Frage, wie die verschiedenen Atemweisen den „BeÂwusstÂseinsÂstrom“ (William
James) unterhalten, kanalisieren und dynamisieren.
Vom Atem her gesehen ist menschliches Dasein Aufbau und Zerfall von Atemgestalten, die sich beim Hineinleben in
eine Situation wechselhaft ausbilden und unser Befinden tragen. Raum und Richtung sind die anthropologischen Begebenheiten, die wir vielfältig mit unserem Leben in der Welt füllen und die uns als sensorische
GrundÂformen der vielgestaltig ausdifferenÂzierbaren Atembewegung begegnen. Ilse Middendorf gebührt das historische Verdienst, die anthropologisch sinnhaften Formen der Atembewegung durch ihre thematischen
Übungsweisen am weitesgehendsten aufgeschlossen zu haben. Ihre empfindungsprägnante Arbeit etwa am Hintergrund, zur IchÂkraftbildung, an der VerÂwurÂzelung, am StandÂpunkt, mit dem Nabelfeld und
zur Entwicklung von Mitte entspricht biologischen Tendenzen zur Vollatembewegung.
Beispielhaft am Lampenfieber zeigt Fußer in einem zweiten Essay die existentialistische Bedeutung der
strukturgesetzÂlichen Atemgestalt, die Peripherieatem genannt wird. Mit dem Peripherieatem wird eine kurzwellige Schwingung bezeichnet, die nur als ein Hin- und Herzittern an der gesamten Körperkontur spürbar ist
und weder beim Einatmen den Eigenraum weitet noch diesen beim Ausatmen verdichtet.
Das LampenÂfieÂber ist ein fixiertes Atemereignis. Bei dem pausenlosen Hin und Her bei der
LampenÂfieberÂÂerregung geht der Mensch weder über sich sensorisch in den Raum hinaus noch flieht er in sich selbst zurück. Er spielt vielmehr auf der Schwelle von Innen und Außenwelt leibseelisch durch, was
nun auf ihn wartet, das von ihm abverlangen wird, sich als Person unverstellt zu expositionieren. Der vorgestellte Übungsaufbau zu dieser Atemweise erklärt die anthropologische Bedeutung der einzelnen
Arbeitsschritte. Was als Übung nicht schlichter anmuten könnte, offenbart einen tiefen Sinn. Ein PeriÂpherieÂatem bereitet Wandlungen vor.
Der Aufsatz „Bewegung im Raum“ qualifiziert die sensitive und kommunikative Bewegung, die in jeweiliger Art auch bei der FelÂdenkrais-Bewegung,
der Konzentrativen Bewegungstherapie sowie dem Tai Ch’i und der Glaserschen Psychotonik eingesetzt werden. Durch das beschauliche und langsame Ausführen von Bewegungen werden gewebliche Spannungen abgesenkt und
Unterspannungen angehoben. Die Atembewegung kann besser fließen. Die Middendorfarbeit geht über diese Gemeinsamkeit der verschiedenen Arbeiten hinaus: Ihr Interesse zielt auf auf den SelbstbewegungsÂcharakter der
Atembewegung. Der Mobilisierung durch sensitive Bewegungen, die vom Willen geführt werden, folgt eine sich nunmehr von innen bildende unwillkürliche Atembewegung, aus der eigene Lösungimpulse entstehen, die in
die Bewegung drängen. Diese von innen kommende Atembewegung wird mit Sammlungskraft, um sie in den unwillkürlichen Ausdruck, die Mimik, die Geste und GeÂbärÂde sowie den Tanz freigzugeben.
Die unwillkürlichen „Bewegung(en) aus dem Atem“ machen uns unabweisbar darauf aufmerksam, dass das Innen nicht nur mit dem Außen idenÂÂtisch
ist, sondern sich auch von ihm unterscheidet. Es macht den individuierten Menschen aus, sich seine eigene Welt geschaffen zu haben. Er hat zwischen Binnenrealität und Außenwelt eine Mitte zu finden. Auch dieser
menÂschenÂkundÂliche Sachverhalt hat in der AtemÂerfahÂrung einen wiederum durch subtile Übungsweisen belegten Namen: Substanzbildung im Atem. Wer über sie verfügt, erscheint so als Person, dass er
nicht übersehen wird.
Nach dieser Fragestellung werden in einem weiteren Aufsatz die Möglichkeiten der Stimmarbeit untersucht. Er bestätigt die intuitive Erkenntnis
Humbolds, Herders und Gerbers, wonach der Charakter des stimmlichen Ausdrucks vor allem durch eine leibliche Tiefendimension bestimmt wird. In der Darstellung der Entwicklung der Atemarbeit mit dem Laut, wird
gezeigt, wie diese Intuition durch die praktischen Erkundungen der westlichen Atempioniere im vergangenen Jahrhundert eine Stütze erfahren hat.
Im dialogischen Geschehen der AtemÂbehandÂlung – so der führende Gedanke des letzten Aufsatzes – entsteht Transzendenz, weil die
AtembeweÂgung die Immanenz sowohl zirkulären SelbstverÂstehens der Iche als auch der phänomenalen Konstitution des fremden Subjekts in der eigenen Subjektivität durchbricht. Die Begegnung ist der Sprung in den
hermetischen Bereich der Person.
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