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Atembewegung als Bildner des sensorischen Raums

[Vegetativum] [Psychotonus] [Chin. Meridianlehre] [Atemgestalt] [Atempsychologie]

Die Atembewegung kann man als einen physiologischen Diener des Atemapparats ansehen. Des weiteren kann man eingewöhnte Atemfehler betrachten, wobei die flache Atembewegung der Hyperventilation der bekannteste ist. Weniger bewusst ist das enge Wechselverhältnis zwischen Atemfunktion bzw. Atembe- wegung und der vegetativen Steuerungen der Organe. Fehlstellungen des Zwerchfells sind bereits hier kein nicht nur ein isoliert zu betrachtender Mangel. Offenbar scheint mit der Atemweise die Lebensweise eines Menschen betroffen. .

Zunächst können Atemfehler nachhaltig die Tätigkeit des Vegetativums beeinträchtigen, weil die Aktivität der Organe und der humoralen Kreisläufe durch die Atembewegung rhythmisiert werden und von ihr Funktionsreize erhalten. Steht dieser eine Hauptatemmuskel zu hoch, so genügen geringe Reize, um die vegetativen Regulationen überschießen zu lassen, die dann wieder rasch zusammenfallen. Und bei dessen habituellen Tiefstellung geschieht das umgekehrte. Die Disregulation besteht in einer zu langsamen Anpassung. Diese erreicht nie das optimale Steuerungsniveau der vegetativen Kreisläufe. Selbstverständlich existieren auch funktionelle Beziehungen der Atembewegung zum Sprechen und Singen. Und keineswegs zuletzt sind die geweblichen Spannungen ausschlaggebend, welche uns auf die psychotonische Dimension der Atemfunktion verweisen.

Doch all diese physiologischen Ordnungen will die Lehre vom Erfahrbaren Atem, die von Ilse Middendorf in jahrzehntelanger Erkundung entwickelt worden ist, nicht besonders genau anschauen. Überhaupt hat diese prominente Atemlehre des Westens kaum ein Interesse an der Klinik. Atemerfahrungen verpflichten dieses lediglich mit: Funktionsstörungen können überwunden werden und das Kranksein kann besser bewältigt werden, lautet die knappe Auskunft, die Ilse Middendorf gibt. Sie verortet ihren Erfahrbaren Atem als ein Anliegen des Schöpferischen.

Das ist nicht nur ein weitreichender Anspruch, den zu begründen eine umfangreiche Darstellung verlagen würde. Wir verweisen zunächst auf die entsprechende Rubrik auf unserer Website Atemtherapie -Kreativität Offenbar reicht für eine derartige Auskunft die physiologische Betrachtungsweise nicht hin, um das Atem- phänomen des Schöpferischen zu erkennen, um das die Kultur sehr wohl weiß. Wir verweisen hier auf ein Zitat von Elisas Canetti, das wir in früheren Schriften zum Bauen von Brücken vorgestellt hatten und das dem Karlsruher Kulturphilosophen Peter Sloterdijk zum Ausgang für seine Gewichtung des Atemthemas in seinem dritten Band der Sphärentheorie diente: Canetti macht uns nämlich in seiner Rede zum fünfzigsten Geburtstag des Atementhusiasten  und Schriftstellers Herman Broch auf die Atemverschränkung der äußeren Welt mit der inneren aufmerksam, in welcher es die Frage der Kreativität auszuloten gilt.

Stellen wir dieses Zitat vor, das uns auf die Sphärenbildung der Atembewegung aufmerksam macht: Gibt Herman Brochs reiche Atemerfahrung "ihm die Möglichkeit, etwas auszudrücken, was sonst nicht ausdrückbar wäre? Bietet eine Kunst, die aus ihr schöpft, ein neues und anderes Bild der Welt? Ja, ist eine Dichtung, die aus der Atemerfahrung gestaltet, überhaupt denkbar? Und welches sind die Mittel, derer sie sich im Medium des Wortes bedient? Darauf wäre vor allem zu antworten, dass die Vielfalt unserer Welt zum guten Teil auch aus der Vielfalt unserer Atemräume besteht." (Das Gewissen der Worte, ,S. 21).

Canetti meint hier äußere wahrnehmbare Lebensräume, die er auf die inneren Schichtungen des Atems bezieht. Er sieht weiter durch die Atemerfahrungen eine Identitätsbeziehung zwischen Innen und Außen gestiftet, die letztendlich gar nicht mehr in ein Objekt und Subjekt getrennt werden kann. Nach Canetti, diesem esoterischen Denker des Leiblichen, steht der Atem für die Hereinnahme äußerer Lebensräume in das Innere. Er erkennt im Atem schöpferische Potenzen und sieht durch Atemerfahrungen dem Menschen eine Vervielfältigung von Lebensmöglichkeiten zukommen. Erst die mannigfaltige Gestaltung der Atemräume gewährleistet vielfältige Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, weil in den energetisch unterschiedlich gewichteten Atembewegungen eine wesentliche Existenz leiblicher Schichtungen vorhanden ist. Durch deren Gestaltungen hindurch konstituiert der Atem eine biologische Einheit und bringt deren mannigfaltige Elemente in eine integrierte Wirkung: als seelische Innenwelt-Existenz und als personal geschaffene Welt, in welcher der andere als Sozialgeselle mitlebt. Nach der Atemlehre von Ilse Middendorf vermag die Innen- schau auf die Atembewegung die eigenen Lebenskräfte auszudifferenzieren, um die Verhaltensmöglich- keiten des menschlichen Organismus zu erweitern, weil eine Mitte in einem sinnlichen Gefüge von IInnen und Außenausraum gewonnen werden kann.

Je vielfältiger, umfangreicher und anforderungsvoller die Bewegungen eines Menschen im außen sind und je umfassender er sein Wesen im Ensemble der sozialen Verhältnisse verwirklicht, desto mehr muss sein Organismus diese Funktionen an eine innere Instanz delegieren, die seine Sinneswahrnehmung, seine Gewahrsamkeit und sein Bewusstsein sowie seine Befindlichkeit, sein vegetatives und vitales Organleben organisiert. Durch diesen lebensphilosophischen Gedanken hindurch - Henri Bergson und Helmuth Plessner inspirieren uns zu solcher Aussage - sehen wir in der Atembewegung jene entscheidende psychophysische indifferente Vitalschicht, in welchem sich die Fülle und der Reichtum eines Menschen sowie die Weise seiner Lebensbewältigung ausdrücken. Dabei beruht die Middendorfsche Atemarbeit auf zwei grundlegenden anthropologischen Begebenheiten, die Helmut Plessner, Grenze und Positionalität genannt hat. Die Grenze gestaltet sich durch einen im Einatem geweiteten Atemraum, der als sensorischer Sachverhalt über den Körper hinausweisen kann, um das Prinzip der Exzentrität in der Positionalität zu realisieren. Die Positio- nalität wirkt im ausatmenden Schmalwerden, welcher der Atembewegung endlich eine Richtung gibt.

Die Middendorf-Arbeit beruht auf einem Sphären-Konzept des Atemraums, der sich selbst schafft, indem die Person mit ihrem Bewusstsein an der Atembewegung anwesend ist. Atemraum ist eine objektiv-subjektive Begebenheit, bei deren Betrachtung das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der naturwissenschaftlich erforschbaren Welt verlassen wird. Der atembewegte Leibraum ist keineswegs ein physikalisch gegliederter, der durch die Muskeln, Knochen und Organe seine Kontur erhält und durch das Zwerchfell unterschieden ist. Er ist vielmehr durch die Veränderung, Weitung und Verhaltenheit der Raumgrenze bestimmt. Je nachdem, wie wir Handeln und uns Verhalten, gestaltet sich der Atemraum, der enger oder weiter, kleiner oder größer, lebendiger oder stumpfer erlebt werden kann.

Es existieren esoterische Topographien durch die meditative und sensitive Leibeswahrnehmung, in denen der Atem Bedeutung hat. Das bekannteste System existiert im chinesischen Meridiansystem, das naturmagisch getönt erscheint. Es ist inzwischen ein wichtiges Standbein der Alternativmedizin geworden und wird in den therapeutischen Verfahren der Elektroakupunktur und der Bioresonanz sowie der Kinesiologie mit der Homöopathie vermählt. Ein anderes wichtiges finden wir im indischen Yoga, das als Körperpraktik geschätzt, aber vor allem wegen seiner religiös-philosophischer Inspirationen bekannt geworden ist. Völlig bekannt ist, dass nun aber in der westlichen Lehre des Erfahrbaren Atems von Ilse Middendorfs Lehre ein keineswegs minder subtiles, aber völlig anders ausgerichtetes herausgefunden worden ist, das für sich in Anspruch nimmt, dem westlichen Menschen gerecht zu werden.

Im vielfältigen Impulsfeld des Atems hat Ilse Middendorf in einzigartiger Differenzierung Strukturgesetze der atemenergetischen Ausdehnungsempfindungen entdeckt. Sie existieren als individuelles Gefüge sowohl in ihrem Ausfall als auch in ihrer Entfaltung. Je mehr der Atem sich an eine wirkliche Vollatembewegung annähert, desto mehr ist er einer ungeahnten Differenzierung in vielerlei gesetzmäßigen Atemgestalten zugänglich. Erst mit der Vollatembewegung kommt dem Atem eine Lebendigkeit zu, die sich grundsätzlich von den starren Fixierungen in Teilatembewegungen unterscheidet, die wir als habituelle Hoch- oder Tiefatembewegung, als Flanken-, Brust- oder Rückenatem kennen. Ilse Middendorfs historisches Verdienst liegt darin, die innere Gestaltendifferenzierung der Atembewegung praktisch zugänglich gemacht zu haben. Theoretisch erklärt aber ist sie nicht. Ihre Lehre harrt eigengestandener Maßen der Formung.

Atemraum ist das grundlegende Sphären bildende Element. Durch den Binnenraum waltet und wogt die Atembewegung. Sie weitet ihn und läßt ihn wieder schmal werden. Dabei kann man physiologisch zwei durch das Zwerchfell miteinander verbundene Räume unterscheiden, einen über und einen unter diesem liegenden. Bei der Vollatembewegung sind sie durch das Zwerchfell miteinander verbunden und bewegen sich im Einklang zueinander. Mit der Aufrichtung entsteht aus dem Vitalzentrum der Atembewegung im Becken auch eine gerichtete Antriebskraft. Das Fehlen der aufsteigenden Spannungsdynamik der Ausatembewegung verantwortet, wenn eine Umwandlung von Erregung in die Aktion missglückt, eine Tat versackt oder unterdrückt bleibt, das Wünschen nicht zum entschlossenen Wollen voranschreitet - kurzum, es nicht zu jenem Antrieb durch die Ausatembewegung kommt, welche zur Handlung drängt und uns zur Aneignung der äußeren Kräfte in der Natur und Kultur ausrichtet. Die mit der Atembewegung gegebenen Antriebe müssen in Lebenshaltungen hinein geformt werden, denn sie können triebhaft entgleisen oder in die depressive Leblosigkeit hineingezogen werden.

Wir können uns die Augen reiben: Was Triebe sind, wird seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts hin und her gedacht und man weis trotzdem immer noch nicht, was sie sind, wenngleich wir über eine Vielzahl von Nominalisierungen des Triebgeschehens verfügen. Der Antrieb - ganz gleich in welcher Form er erscheint, als ausgerichtete Strebung in der Handlung, als gefühlte Leidenschaft und Explosion im Affekt, als Begierde oder Getriebensein - kommt von unten und erfährt oder erleidet als Vollatembewegung oder habituelle Teilatembewegung sein Schicksal. Die enge Verbindung zwischen allgemeinen Antriebsleben zur Sexualität ist gegeben, weil das Zwerchfell seinen Antipoden im Beckenboden mit seinen Spannungs- und Erregungsqualitäten hat. Deshalb wird die mögliche Durchtränkung vieler menschlicher Handlungsfelder durch sie verständlich, wenn die inneren Gleichgewichte der Atembewegung gestört sind.

In aller möglichen Emphase sind wir durch die Middendorf-Arbeit auf die  sensorische Dimension der Atembewegung, die uns in einen vital-pathischen Resonanzkreis vielfältiger Atemgestalten setzt und dadurch raumbildend sowie raumzentrierend und richtungsbildend wirkt. Wir dehnen uns sensorisch mit der Einatembewegung in die Welt hinaus und positionieren uns dementsprechend sensorisch in ihr, wie die zurückschwingende Ausatembewegung Spannungsempfindungen moduliert. Das innere Weit- und Schmalwerden entspricht der Raumbildung im äußeren. Die Vielgestaltigkeit unserer Lebensräume hat eine Entsprechung in den Atemräumen, was die middendorfsche Erfahrungsarbeit motiviert, die Atembewegung in ihrer innerlichen Gliederung als Atemgestalten auszudifferenzieren.

Das Üben am Atem soll nicht nur die biologische Tendenz zur Vollatembewegung freisetzen, sondern auch die Differenzierung der Atembewegung zu menschenkundlich bedeutsamen Atemgestalten. Raum und Richtung sind dabei die Grundformen. Hintergrund, Vordergrund, Ichkraft, Atemzentrum, Leibgrenze, Antriebsdynamik, Wurzelkraft, Nabelfeld etc. deren besonderen Ausformungen. Ilse Middendorfs Jahrhundertleistung ist es, die sensorisch empfindbare Atembewegung so über die verschiedensten Übungspraktiken ausdifferenziert zu haben, wodurch erlebbar wird, wie den Atemgestalten menschliche Daseinsweisen entsprechen.

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