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Die Phänomenologie eines Maurice Merleau-Ponty sagt uns: Alles was ich weiß, tue, fühle und empfinde wird durch meine existenzgebundene
Welterfahrung organisiert. Der Atemlehrer fügt hinzu: Diese ist in ihrer biografischen Gewordenheit in der Atembewegung konsolidiert. Vor allem Wahrnehmen, Denken und Spre- chen des Ichs wertet die Person sensorisch
im Verhältnis von Innen und Außen, zwischen dem er eine Mitte finden muss. Durch seine animalische Erbschaft ist dem Menschen ein vital-sensorisches Resonanz- reich der vorsprachlichen Informationsverarbeitung durch
die Atembewegung mitgegeben. Die Verschrän- kung von Atemleib und Bewusstsein ist dem Ich jedoch nur indirekt zugänglich und bleibt ihm nahezu unverfügbar.
Sind die Akte des Ichs an den Leib angejocht, existiert ein Rückhalt, durch welchen Selbstsicherheit ge- wonnen wird. Das Tun und Lassen erscheint
stimmig. Wohlbefinden entsteht, weil die Atembewegung befreit schwingt. Das willentliche Tun hallt in den leiblichen Empfindungen wider, wodurch es unbewusst korrigiert und geschmeidig geführt wird. Doch der Leib
kann mit seinen Bedürfnissen auch in Widerspruch zum Bewusstsein geraten. Missbefinden macht sich breit. Werden die leiblichen Appelle nicht vom Ich angenommen, kann die Handlung zerfallen und die
Verhaltenssicherheit ausrinnen.
Wegen des möglichen Widerspruchs zwischen Bewusstsein und Befinden treten die verschiedensten Körper- und Atemtherapien nicht nur mit dem
berechtigten Anspruch auf, Grenzen der traditionellen Psychotherapien zu übersteigen. Manche behaupten gar, dass „der Körper ... nicht“ lüge. Doch derartigen Postulaten anthropologischer Unmittelbarkeit ist zu
widersprechen. Die leibliche Auskunft kann nicht von vornherein besser dran sein, weil zwischen Wahrnehmung und Empfinden eine Differenz existiert. Wegen ihr ist dem Menschen ein erkenntnistheoretisches Problem
aufgegeben. Die metaphysische Kehre von Em- manuel Kant begründet sich nämlich darin, dass wir die Gesetze der Natur nicht in dieser direkt erkennen, sondern dass wir unsere Anschauungen in diese hineinlegen.
Einfache Antworten scheinen ausgeschlossen. Zunächst hintergeht der unmittelbare Blick auf die Empfin dungsdaten in den Körper- und Atemarbeiten
die absolute Selbstgewissheit, wie sie dem cartesianischen Ich zukommt, das zum Ausgang des neuzeitlichen Denkens und der Wissenschaften wurde. Dieses ist bekanntlich so pur transzendental, dass es sagen kann: „Ich
bin, weil ich denke“. Gegen diese Verengun- gen der transzendentalen Bewusstseinsrationalität wurde philosophiegeschichtlich zunächst die Praxis und schließlich das Leben ins Feld geführt.
Im vergangenen Jahrhunderts wurde mit zivilisationskritischem Duktus der Atemleib als Erfahrungsgebiet erkundet. Die Sackgassen sind inzwischen
unübersehbar: Die eine führt in eine weltflüchige Spiritualität, die östlich beliehen daherkommt, um das Denken selbst als Schein zu entlarven. Die andere rationalisiert mit wissenschaftlich-technischer Inbrunst die
Körperbeherrschung. Sie folgt der sich selbst zwingenden Selbsttätigkeit, die sich gegenüber dem eigenen Leib in Distanz verhält. Die Pioniere der westlichen Atem- arbeit haben den dritten Weg einer Lebenskunst
gesucht, auf dem die biologischen Tendenzen zur Voll- atembewegung freigesetzt werden: Diese bergen eine Programmstruktur der Selbstbewegung mit einer produktiven und kreativen Haltung zur Welt.
Atemerfahrungen scheinen zunächst alle erkenntnistheoretischen Probleme um den Status von Selbst- erfahrungen zuzuspitzen. Sie stellen den Übenden
mit einzigartiger Klarheit in eine doppeldeutige Situation: Wenn dieser beim Belauschen der eigenen Atembewegung Empfindungen erlebt, so gründen diese zu- nächst in einer Realität, die sich fundamental von jener
seines Atemflusses unterscheidet, auf den er gar nicht achtet, wenn er beim gelungenen Handeln seine Sinne auf eine Sache oder den anderen ausgerichtet hat. Die Krux dabei ist, dass die empfindende Selbstzuwendung
eine Atembewegung schafft, die den ein- genommenen Aufmerksamkeitsmaßen im Verhältnis von Hingabe und Achtsamkeit entspricht und damit zunächst fast über alles andere Auskunft gibt als das, was meine eigentliche
Atembewegung denn nun ist..
Es führt kein direkter Atemweg zu einer allgemeingültigen Wahrheit. Sollen Atemerfahrungen als Erleben innerer Abläufe aber nicht ins Belieben
abgleiten, ist ein schmaler Weg zu begehen. Sein Abweg ist die Selbstproduktion von Atemstörungen durch die Selbstzuwendung. Alle westlichen Atemschulen qualifizieren ihre Methoden und Übungsweisen darin, der
leichten Störbarkeit des Atems zu begegnen. Diese ist die andere Seite der Medaille, wonach die Atembewegung unvorstellbar subtil jeden Eindruck und jede Aktion, jeden Gedanken und jede Emotion begleitet..
Es gilt sich, mit Sammlungskraft so in die Atembewegung einzuschmiegen, bis schließlich alle wollende und beabsichtigende, beobachtende und wertende
Bewusstseinsaktivität untergeht. D.h. es entsteht jene “phänomenale Situation”, in welcher nach Edmund Husserl kein Ich mehr dem eigenen Leib entgegensteht. Erst dann, wenn das pure Erleben eingekehrt ist, kann der
unwillkürliche Eigenrhythmus freiwerden. Indem die Sammlung als Übergangsfeld zwischen Bewusstsein und Erleben alle Eigenschaften des Ichs verliert und sich als personale Beziehung in den eigenen Atemleib einlässt,
wird ein Zugang zum Atem als Kar- dinalbeziehung der Transzendenz möglich. Durch eine gesammelte Atemweise entsteht Erfahrbarer Atem (Ilse Middendorf), der wegen dem Untergang des verstehenden Ichs sein
„Geheimnis der Immanenz“ be- wahrt.
Verbessert sich der Atemfluss, können die Ich-Kräfte des Übenden einen gebietenden Aufruf aus der leib- lichen Zustandsbefindlichkeit erfahren. Über
diese Selbstordnung des sinnlichen Verhältnisses von Innen- und Außenraum kann sich eine Gewissheit über die eigene Existenz ausbilden. Während wir durch die verstehende und deutende Analyse seelisch-geistiger
Inhalte inne werden, leben Atemerfahrungen durch das Erleben prägnanter Empfindungen von einem Erfüllungscharakter, durch welchen die Person aufgerufen wird. Der Kern der Person ist durch Begegnung mit dem anderen
oder Selbstbegegnung zugänglich, die das un- bekannte Innere regieren und das Fremde in das Eigene aufnehmen lässt.
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