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Die vielen aufgeworfenen Grundsatzfragen in der Heilkunde scheinen unlösbar und künden offenbar von einem ewigen Streit, der einsetzte, als sich die
Menschheit aufmachte, die innere und äußere Natur mittels erkann- ter Formgesetzte zu bewältigen und zu beherrschen und in Widerstreit zum Schauen, erfühlen, belauschen und beschwichtigen der Naturmächte geriet. Die
Atembewegung ist wohl das entscheidende Medium, über das sich der Mensch in magischer Zeit seiner selbst bewusst geworden ist und der Atem sollte nach diesen Ursprungserfahrungen auch im kulturellen Fundus zur
Kardinalbeziehung der Transzendenz und Selbstbildung aufrücken.
Dass der Atem über das Physiologische hinausweist, lehren vor allem die Traditionelle Chinesische Medizin und das indische Veda. Das Hauptsymbol der
taoistischen Meridianlehre ist das Ch’i und der yogistischen Praxis ist die Erfahrung des Prana zugehörig. Im Alten Testament haucht der göttliche Odem Adam das Leben ein..Überhaupt kennen magische sowie dem Mythos
verpflichtete Heillehren den Atem als vornehmste Heilkunst. Aus dem für uns uneinholbaren schamanischen Erleben der Atembewegung gingen jene ursprüng- lichen Weisen der Geist- bzw. Seelentherapien hervor, die in
sakrale Rituale eingebettet waren und mittels introspektiver Gewissheit zu einer transzendenten Erfahrung führten. Die altägyptische Kultur bezeichnete das Heilen durch den Atem als königlich.
Den magischen Erfahrungskreis der informierenden Resonanzen im schwingenden Atem hat der Mythos und die Religion überstiegen, wodurch der Mensch ein
indirektes Verhältnis zur eigenen Natur und damit rationale Ordnung in die profanen Sozialwelten gewinnen konnte. Gerade die griechischen Pneumalehren in der Tradi- tion von Empedokles und Diokles, welche sich
darin geschichtlich auszeichnen, endültig den Schnitt zur Naturmagie vollzogen zu haben, sahen im Atem den Naturstoff für eine umfassende Seelenkunde. Es kommt also auch in dieser pointierten Sicht nicht von
ungefähr, wenn Friedrich Nietzsche Vergewisserung des altgriechischen Mythos vermutet, dass „es sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib (handelt)“.
Uns soll zum Problem werden, weshalb die Symbole und Begriffe, die in den verschiedensten Kulturen Atem meinen, überraschenderweise mit Energie
statt mit Atembewegung übersetzt werden. Eigentlich korrekt wäre Atembewegung und die Übersetzung mit Energie scheint eine entscheidende Leerstelle zu umschiffen, die für eine Alternativmedizin, die sich selbständig
macht, so bedeutsam wäre: Ihre verschiedensten Testverfahren erfassen nämlich Informationsdaten eines biologischen Vollzugs, der seiner Natur nach erlebnishaft, sinnhaft und personenbezogen ist. Man ist um diesen
Sachverhalt verschämt, weil er nicht den dinglichen Kriterien der Sicherung von Erkenntnissen genügt. Die Ergebnisse der alternativmedizinischen Testverfahren sind nicht immer an jedem Ort und zu jeder Zeit
reproduzierbar, ja ihre Ergebnisse sind gar teilweise – und das ist auch in einem entscheidenden positiven Sinne zu sehen – personenabhängig.
Der Energiebegriff nun, der in den verschiedensten Verfahren der Alternativmedizin gebräuchlich ist, ver- schiebt die Lösung der Problematik ins
Esoterische: Das Problem ist: Wie sind in archaischer Vorgeschichte gewonnene Einsichten in das Lebendige in der historisch entwickelten Rationalität aufzubewahren und wie wäre diese dadurch weiterzuführen? Mit dem
Energiebegriff sind wir überhaupt nicht aus dem mystischen und natur- magischen Kontext entlassen, in den uns die Übersetzung von Ch’i in Atem und Geist halten würde.
Der Energiebegriff verdinglicht die Erfahrung des inneren Bewegtseins und des geweblichen Lösens durch die fließende oder gar spektakulär
freigewordene Atembewegung und ist wissenschaftlich doch so wenig taug- lich. Man spricht in der Elektroakupunktur von „Energieleitbahnen“, welche die Vorstellung um Materielles suggeriert. Das Ch’i aber ist in
keiner Rohrleitung fassbar. Durch derartige Reden werden Strukturprinzipien in feste Ordnungen gepresst, denen gerade keine dingliche Griffigkeit wie einer physikalischen Faktizität zu- kommt, die der Energiebegriff
zumindest im deutschen Sprachraum aber meint.
Der eigentliche physiologische oder besser psychotonische Atemkern der Meridiane ist aus dem Licht der Betrachtung genommen: Meridiane – auf denen
die Akupunkturpunkte liegen - laufen nämlich gelenk- übergreifenden Muskelketten entlang, die zu lösenden Dehnungsketten werden können, wodurch die Atembewegung ins Fließen kommt. Hier aber wären die
ersten Übergänge zum physiologischen Denken möglich und der erste Wegweiser wäre aufgestellt für den Gang durch ein in seinen Gefahren nur schwer unabwägbaren und durch wenige markierte Fährten gesicherten Terrain.
Zu diesem einfachen Blick vom Standpunkt der Meridianlehre auf die Physiologie war bislang den Wissen- schaften nicht möglich. Der Arzt und
Atemlehrer Volkmar Glaser gewann ihn übrigens bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und entwickelte aus der Psychotonik der Meridiane eine ursprüngliche Anthropologie. Der
erkenntnistheoretisch ausgedünnte Materialismus, die sich in Wissenschaften eine Stütze sucht und über technokratisch-bürokratische Prozesse machtroutiniert absichert, hat die Hosen voll, wenn er auf das Lebendige
eines Menschen blicken soll. Es hat riesengroße Angst davor, ins Bodenlose der Unvernunft zu versinken. Der Verstand ist durch getrübte die Sinne gedämpft.
Bei Richard Wilhelm, der mit Carl Gustav Jung, dem Begründer der Analytischen Psychologie, in engem Kontakt stand, finden wir den metaphysischen
Kontext der Mystik noch bewusst wach gehalten, wenn er das Symbol „Ch’i“ nicht nur mit „Atem“, sondern auch mit „Geist“ übersetzt und damit das Ideelle im Übergang von Atem und Wort hervorhebt. Es ist wohl nicht
auszuschließen, dass der protestantische Missionar darum wusste, wie das Leibliche in Martin Luthers Bibelübersetzung neutralisiert wurde, als der Heilige Atem end- gültig zum Heiligen Geist erhoben wurde. Für
Wilhelm jedenfalls war im Atem die Logik subjektiver Entwick- lungsvorgänge angelegt, die nicht in der Idealität eines vorstellenden, selbstreflexiven Ichs verstanden werden kann.
Die Angst davor, in etwas hinabzugleiten, was nicht mehr durch die historisch entwickelten Rationalität beherrschbar erscheint, dürfte wohl den
Verdinglichungsversuchen des Lebendigen zugrunde liegen. Allen voran schritt Wilhlem Reich, dessen frühere Ehefrau sowie seine spätere Lebensgefährtin beide Atemlehrer- innen warens Reichs angelesener Marxismus
begriff die Atembewegung als Bioenergie, die er durch forcier- tes Atmen ins Fließen brachte. Der dadurch wiederbelebte Orgasmusreflex, ist übrigens ein Atemreflex. Für die Praktiken der Alternativ- medizin aber war
der Franzose Soulié de Morant begriffsprägend. Er führte die Deutung „Energie“ für das Symbol „Ch’i“ ein. So vorzugehen, mahnten wohl die Traditionen des französischen Rationalismus an, der das Subjektive und
Erlebensgeschehen zu integrieren wusste, wofür das lebensphilo- sophische Denken eines Henry Bergons und das medizinische Denken eines Claude Bernards maßgeblich waren.
Ausgang für de Morants Überlegungen dürfte die Erfahrung gewesen sein, dass lösende Fließsensationen in der Muskulatur entstehen, wenn mit Nadeln in
ausgezeichnete Punkte eingestochen wird. Falls massive Überspannungen vorliegen. Bei Schmerzpatienten, kommt es selbst zu Lösungssensationen, wenn die Einstiche daneben gesetzt wurden. Daraus ziehen nun besonders
einfallsreiche Mediziner den Schluss, dass an der ganzen Akupunktur nur eines dran wäre: ein Placeboeffekt. Morant war der Auffassung, dass die Naturwissenschaften eines Tages den Nachweis erbringen würden, dass
Akupunkturnadeln auf körpereigene Energieströme wirken.
Sicher ist aber auch, dass der energetischen Atemthematik – die Atemarbeit kennt außerdem eine vitale und eine dynamische sowie eine
sensorisch-pathische Dimension – weder durch die Inspirationen indischer Religiosität noch chinesischer Naturmagie auf die Sprünge geholfen werden kann. Für erstere fehlt der kul- turelle Grund und letztere ist
uneinholbar vergangen. Vor allem aber ist deren gefühlte Ursprungslogik für unser Anliegen unbrauchbar. Das naive Suchen ist deshalb verlockend, weil ein anfängliches Folgerungs- vermögen in allen Erscheinungen sein
Anliegen erkennt und in jedem Teil das Ganze auslegt. Ein derartiges Denken, das immer nur Identitäten sichtet, kann gar nicht widerlegt werden, denn es glaubt, bis hinein in offensichtliche Selbstzerstörung, gewiss
zu sein. Es prägt die moderne Ausbildung von Privatreligionen im vergangenen Jahrhundert.
Die magische Anfangsdynamik des ursprünglichen Schlusses muss man hinter sich lassen, will man den drei grundlegenden Anschauungsformen des
Bewusstseins einen Platz der Erkenntnis freihalten: der Präg- nanz des Empfindens, dem Inne-werden seelisch-geistiger Inhalte und dem Antreffen der Person in dem dargestellten Ausdruck. Die Atemarbeit mit ihrem
pathischen Kern und ihrer vitalen Sensorik kann die Emp- findung in ihr Recht einsetzen und bis hinein in die Identifizierung von Informationen im Resonanzgeschehen führen lassen. Gerade weil das Erlebnis der
Empfindung kaum in Worte zu fassen ist, kann sie eine andere Welt ans Licht heben, welche durch die kognitive Wahrnehmung des Ichs gar nicht erfasst werden kann.
Was nun beim Atmen gespürt und erlebt wird oder durch Resonanzabgleiche an Informationen identifiziert wird, unterliegt nie kausalen
Gesetzmäßigkeiten. Das Lebendige wirkt eben nicht so, wie es sich die Natur- wissenschaften mit ihren Formalisierungen vorstellen. Das Allgemeine wird nicht durch Einzelfälle nach- gewiesen. Vielmehr ist es
umgekehrt. Allgemeinheitscharakter haben Strukturprinzipien, die sich im Be- sonderen entfalten. Sie bilden Deutungs- und Untersuchungshilfen für den Einzelfall, um die gestörten Lebensschichten eines einzelnen
Falles und die Heilhindernisse zur Genesung von einer Krankheit zu identifizieren.
Man muss die fürs wissenschaftliche Denken „unerhörte Begebenheit“ (Goethe) begreifen, dass bei der Handhabung des Lebendigen keine allgemeinen
Gesetzmäßigkeiten leitend sein können. Es ist eine außer- gewöhnliche, auch nicht durch bestimmte Atemschulen und sonstige Lehren gefesselte Offenheit verlangt, wenn nicht das Bekannte diktierten kann. Auf
solcher Suche muss man geradezu die Atembewegung in den Mittelpunkt einer alternativen Heilkunde zu stellen. Nicht zuletzt:gibt sie nach Paracelsus einen vielversprechenden Rückhalt: „Alle Heilung (geht) durch den
Atem.”
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