Seit der Wende zum vergangenen Jahrhundert hat in Deutschland eine praktische BeschÀftigung mit dem Leib eingesetzt, die noch nicht abgeschlossen
erscheint und durch die Verbindungen mit der modernen Alternativmedizin in den letzten Jahrzehnten ihre Krönung erhalten könnte: Schrittweise wurde die weit- reichende Bedeutung der Atembewegung fĂŒr eine Heil-,
Erlebnis- und Lebenskunst entdeckt und der Um- gang mit ihr als Erfahrungsgebiet erschlossen. Dabei existieren weitreichende Konvergenzen zur sozial- kulturellen Entwicklung, die sich bis in die romantischen
Traditionen der beginnenden Neuzeit zurĂŒckbinden lassen.
Im mittleren Drittel des vergangenen Jahrhunderts hat das Atemthema seine erste, inzwischen lÀngst ver- gessene wissenchaftliche Karriere
durchlaufen: Der Atem wurde naturwissenschaftlich und im Zusammen- hang mit den anatomischen, physiologischen und neurologischen Funktionseinheiten nicht zuletzt auch im naturheilkundlichen Interesse untersucht. Das
Leibthema der Wandervogeljugend hatte die Entwicklung der Anthropologischen Philosophie, der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie beeinflusst. Und keines- wegs zuletzt wurde das Atemthema in einer neuen
Weise nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Tagesord- nung gesetzt, nachdem die Elektroakupunktur die chinesische Meridianlehre und die Homöopathie mitein- ander vermĂ€hlte. Der Atem steht fĂŒr die Entwicklung einer
energetischen Medizin Pate, die sich an der Schnittstelle bewegt, an der sich das Lebendige unmittelbar in seiner Formbildung sowie deren Zerfall und Zerstörung zeigt.
Der Gegenstand Atemleib informiert eine geschichtliche Untergrundströmung, von der nicht nur die Philo- sophie und die klassische Naturheilkunde,
sondern auch die heutige Alternativmedizin wesentliche Energie bezogen. Selbst die ersten Keime fĂŒr das Entstehen einer eigenstĂ€ndigen Physio- und Psychotherapie sowie die spĂ€tere LogopĂ€die wurde von dem im
vergangenen Jahrhundert entdeckten und angeschlossenen Atemquell getrĂ€nkt. Atemschulen und Körperpsychotherapie haben einen gemeinsamen Ursprung. DarĂŒber hinaus ist der Atem das unĂŒbersehbar Verbindende von und
zu yogistischen Versenkungstechniken, meditativen Bewegungspraktiken und ostasiatischen Heilmethoden. Und keineswegs zuletzt: die Debatte um eine Reform der Erziehung und Bildung, die vor dem I. Weltkrieg
begann und vom Interesse des Kindes ausging, hat ihre UrsprĂŒnge in der LeibpĂ€dagogik. Alle ReformpĂ€dagogen hatten enge Beziehungen zu Atemlehrerinnen.
ZunÀchst wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Inspirationen und Praktiken aus der Leib- und HeilpÀda- gogik zur staatlich anerkannten
Krankengymnastik und Physiotherapie verselbstÀndigt. In den siebziger Jahren wurde die LogopÀdie zum Àrztlichen Hilfsberuf aus dem breiteren Strom der sich bereits ausbildenden Atemschulen ausgegliedert. In den
medizinischen Institutionen konnte schlieĂlich eine Ă€rztlich orientierte Atemtherapie entstehen, die sich auf die Erkrankungen der Atemorgane und der Stimme fokussierte. Noch wurde in naturheilĂ€rztlichen und
heilpraktischen Kreisen der alte Anspruch einer Atemheilkunst aufrecht erhalten, welche der Beobachtung von Paracelsus folgte âdass alle Heilung durch den Atem gehtâ. Viel zu wenig noch ist man sich des
Atemherzes der modernen Alternativmedizin bewusst.
Erst in den sechziger und siebziger Jahren begann sich der jahrzehntelang erprobte Umgang mit der Atem- bewegung endgĂŒltig in westlichen
Atemschulen zu konsolidieren. Manche Methode wurde in der NĂ€he zur institutionalisierten Medizin und zur entstehenden Psychosomatik entwickelt. So war die Atemarbeit bereits 1936 in dem âDeutschen Institut fĂŒr
psychologische Forschung und Psychotherapieâ als Bestandteil der Psychotherapie und Psychosomatik offiziös geworden, aber nach 1945 auch diskreditiert. Atmen war da- nach, besonders fĂŒr die kritische Jugend nur
noch in der Form der Körperpsychotherapie genieĂbar. Andere Methoden sollten keinen vorgegebenen Zwecken dienen und als âWegâ verstanden werden. 1949 grĂŒndeten zwölf Ărzte eine Forschungsgemeinschaft zur
Atempflege. SpÀter kamen die meist weiblichen Atempraktikerinnen dazu, welche die eigentliche Arbeit weiterentwickelten.
Nach 1968 kehrte die 1933 in die USA emigrierte AtempĂ€dagogik körperpsychotherapeutisch umgearbeitet nach Deutschland zurĂŒck. Wilde Praktiken des
forcierten Atmens kamen wieder auf. Das Yoga begann in den siebziger Jahren populĂ€r zu werden und in den Achtzigern begannen auch die an der chinesischen Meridianlehre orientierten Praktiken (Tai Châi, Qi gong,
Akkupressur, Shiatsu und die Kinesiologie) einzu- wandern, die ĂŒbrigens durch die Inspirationen der Atemarbeit umgearbeitet oder neu entdeckt worden sind. Die in der Weimarer Umbruchszeit ausgesĂ€te Saat, hat nun
ihre Inkubationszeit hinter sich gelassen.
Inzwischen boomt der Markt. Nicht nur ein vermeintliches WohlfĂŒhlen wird gesucht. Auch der Himmel auf Erden wird versprochen. Ăber die Risiken im
Umgang mit der hoch empfindlichen und leicht störbaren Atem- bewegung existiert jedoch kaum ein Bewusstsein. Auch die Heilhindernisse, welche die Alternativ medizin inzwischen erkannt hat, sind noch nicht zu einem
reifen Thema einer sich erst noch auf dem Weg zur Profesionalisierung befindenden Atemarbeit ausgewachsen. Die medizinkritischen Bewegungen sind erneut auf einer breiteren Grundlage in Gang gekommen und werden wohl
unser VerstÀndnis vom Menschsein, von Bildung und Erziehung, Gesundheit und Krankheit gravierend verÀndern und einen Beitrag dazu leisten, wie in der nachindustriellen und nachsozialistischen Gesellschaft die
natĂŒrlichen und gesellschaftlichen Bande neu zu verknĂŒpfen sind.
UnĂŒbersehbar will das geschichtlich A.useinandergegangene auch wieder zusammenkommen und beginnt ĂŒber den heilkundlichen Bereich hinauszuwachsen.
So könnte das Atemthema zu einer aus der Lebenswelt erwachsenden Idee werden, mit denen in der Reform des Schulsystems und des Gesundheitswesens sowie des sozialen Zusammenlebens vorangekommen werden kann. Eine
derartige neue Idee ist nötig, nachdem die Standpunkt ausgemessen sind, der unendliche Streit sich erschöpft und die eingefahrenen Wege verlassen werden mĂŒssen.
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